So werden wir manipuliert

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der ausufernden Techniksucht, der wachsenden Polarisierung unserer Gesellschaft, der ständigen Empörung über politische Zustände und unserer Besessenheit nach Aufmerksamkeit?

Die Antwort ist eindeutig Ja. Und die Ursache hierfür ist das Geschäftsmodell der Internet-Giganten, die uns ihre Dienstleistungen kostenlos oder zu sehr günstigen Preisen anbieten.

Wer mich kennt, weiß dass ich sowohl angesichts der Naivität, mit der wir mit unseren Smartphones und Tablets im Internet unterwegs sind, aber auch aufgrund der oftmals an Verschwörungstheorien grenzenden Behauptungen, weshalb diese Geräte für die Menschheit so gefährlich sein sollen, ungehalten reagiere. Denn weder der naive Umgang noch Verschwörungstheorien beantworten die eingangs gestellte Frage.

Täglich sehe ich Mütter und Väter, wie sie im Beisein ihrer Kinder mit ihren Smartphones beschäftigt sind. Schülerinnen und Schüler haben ihre Handys immer griffbereit und zücken sie spätestens, wenn sie das Schulgelände verlassen. Regelmäßig erreichen mich E-Mails mit verstörendem Inhalt: Der neue Funknetzstandard 5G ist eine große Gefahr; Handynutzern wachsen Hörner und überhaupt sind wir alle dem Untergang geweiht.

Nein, Google und Facebook sind nicht klüger als wir, sie kennen nur unsere Schwächen besser.

Jeder Zauberer weiß, dass man nicht schlauer sein muss als der promovierte Astrophysiker, um Menschen zu beeinflussen – man muss nur ihre Schwächen kennen. Und das ist gar nicht einmal so schwer. An der Stanford Universität wurde hierfür eigens ein Kurs eingerichtet: das „Persuasive Technology Lab“.

Tristan Harris ist einer der Absolventen des Persuasive Technology Labs. Er machte ein Praktikum bei Apple, bevor er seine eigene Firma Aptur gründete. Diese verkaufte er an Google, wo er als „Design-Ethiker“ arbeitete und sich zusammen mit einer Handvoll Kollegen täglich die Frage stellte, wie sie Einfluss auf die Gedanken von über 2 Milliarden Menschen ausüben können. Denn in einer Aufmerksamkeitsökonomie ist Aufmerksamkeit beschränkt und das Werbegeschäftsmodell will immer mehr davon. So wird es zu einem Wettlauf zum Grund unseres Hirnstamms. Jedes Mal, wenn Technologieunternehmen tiefer in den Hirnstamm vordringen, nimmt die Kontrolle über unsere Gesellschaft zu.

Harris wurde am vergangenen Dienstag, dem 25. Juni 2019, vom US-Senat zur Beeinflussung der Menschen durch Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter, Google, Instagram, Pinterest, Snapchat u.ä. befragt. Dort erklärte er, wie Menschen regelrecht süchtig nach diesen Programmen gemacht werden.

1) Pull to Refresh

Mit dieser Technik werden Smartphones und Tablets zu Spielautomaten. Mit dem Daumen „zieht“ man den Bildschirm nach unten, woraufhin neue Inhalte, kleine Belohnungen geladen werden. Die Aussicht auf eine „gelegentliche Belohnung“ besitzt bereits ein kleines Suchtpotential.

2) Infinite Scrolling

Stellen Sie sich vor, Sie würden aus einem Glas ohne Boden trinken und während Sie trinken, wird ständig neuer Wein nachgefüllt. Sie wüssten bald nicht mehr, wie viel Sie bereits getrunken haben. Genauso verhält es sich mit dem „endlosen Scrolling“. Während Sie mit ihrem Daumen durch den Newsfeed oder die Timeline scrollen, werden permanent neue Inhalte geladen. Sie können diesen Vorgang endlos fortsetzen. Allerdings vergessen Sie dabei schnell, dass Sie eigentlich noch etwas anderes tun wollten.

3) Verlangen nach Aufmerksamkeit

Der nächste Schritt ist, Benutzer von der Aufmerksamkeit Dritter abhängig zu machen. Dazu dienen die „Likes“, die „Follower“ und die „Retweets“. Wenn Sie einmal an diesem Punkt sind, dass es sie interessiert, wie viele Likes ein Bild von Ihnen bei Instagram, Pinterest oder Facebook bekam oder wie oft ihr kleiner Beitrag bei Twitter retweeted wurde, kommen Sie so schnell nicht mehr aus der Nummer heraus. Dies führt bei Teenagern oft zu einer psychischen Krise. Es ist ein teuflischer Trick dieser Plattformen, um Benutzer an sich zu binden.

4) Künstliche Intelligenz / Machine Learning

Im aktuell letzten Schritt spielen künstliche Intelligenz und Machine Learning die Hauptrolle. Dazu muss ich etwas weiter ausholen.

Als am 11. Mai 1997 der Schachweltmeister Garry Kasparov gegen IBMs Deep Blue verlor, stand fest, dass auch in Zukunft kein Schachspieler dieser Welt diesen Computer schlagen wird. Ein Schachspieler zeichnet sich dadurch aus, dass er viele Spielzüge im Voraus berechnen und sich dann für den besten entscheiden kann. Die Programmierer von Deep Blue hatten ihren Rechner mit zahllose Spielzügen aus vorherigen Kasparov-Spielen „gefüttert“. Der Rechner konnte lediglich wesentlich mehr Spielzüge vorausberechnen, als sein Gegner. Während Kasparov beispielsweise nur die Wahl zwischen sieben bis acht Zügen hatte, konnte Deep Blue den besten Zug aus Millionen Zügen ermitteln. Schachmatt.

Mit AlphaGo gingen die Google-Entwickler einen großen Schritt weiter. AlphaGo ist ein universell einsetzbares Programm in Form eines neuronalen Netzwerkes, das selbstständig Regeln und Spielzüge lernen kann. Will sagen: Niemand hat AlphaGo das um ein Vielfaches kompliziertere Go-Spiel beigebracht. AlphaGo hat die Regeln und Tricks selbst gelernt – und im März 2016 den bis dahin weltbesten Go-Spieler geschlagen.

Und jetzt machen Sie sich bitte bewusst, dass jedes Mal wenn Sie eine Nachricht mit WhatsApp oder dem Facebook-Messenger verschicken oder empfangen, wenn Sie einen Begriff in Google suchen, wenn Sie eine E-Mail über ein Gmail-Konto verschicken, wenn Sie durch die Timelines bei Facebook, Twitter, Instagram scrollen, wenn Sie einen Artikel „liken“ oder „retweeten“ eine Maschine wie AlphaGo sie beobachtet und dabei Ihr digitales Abbild immer weiter verfeinert.

So braucht beispielsweise YouTube nicht Sie zu fragen, was Sie sich vielleicht als Nächstes anschauen mögen – YouTube fragt Ihren digitalen Doppelgänger. Dabei kennt der Doppelgänger – ganz im Gegensatz zu Ihnen – keine Skrupel und wählt gerne Filme mit pikantem und verstörendem Inhalt aus. Denn … Nachrichten mit verstörendem Inhalt sind besonders beliebt und Falsch-Nachrichten verbreiten sich sechsmal schneller im Internet als wahre Nachrichten.

Schließlich kommt es YouTube und den übrigen großen sozialen Netzwerken nicht auf Wahrheit, sondern ausschließlich auf Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit an. So werden 70 % der Filme, die YouTube ausspielt, aufgrund der automatisch erstellten Vorschlagsliste angeschaut und nicht, weil Benutzer nach ihnen suchten.

Besonders der letzte Schritt erzeugt ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den großen Plattformen im Internet und jedem einzelnen von uns. Es ist gerade so, als würde der (katholische) Priester den Beichtstuhl an Unternehmen vermieten und bereits wissen, was Sie beichten werden, bevor Sie den Beichtstuhl betreten haben. Die genannte Technik funktioniert so gut, dass Menschen glauben, Facebook oder Google würden uns ohne explizite Erlaubnis abhören. Facebook und Google brauchen Sie nicht abzuhören – sie brauchen nur Ihr digitales Abbild zu fragen, was Sie sehr wahrscheinlich als Nächstes interessiert.

Wo wir schon beim digitalen Abbild sind – selbst wenn Sie bei Facebook oder Google alle ihre persönlichen Daten löschen – ihr Abbild im neuronalen Netz bleibt bestehen.

Die asymmetrische Beziehung verlangt von Google, Facebook, Twitter und Co. besondere Verantwortung für die Inhalte, die sie ausspielen. Bislang konnte ich nur beobachten, dass sie hierfür jegliche Verantwortung ablehnen, da es die Benutzer seien, die die Inhalte auf die Plattform stellen und selbst entscheiden, welche davon sie sich anschauen.

Es wird Zeit, dass diese Technik zum Wohl der Menschen eingesetzt wird. Nur dazu bedarf es mit Sicherheit mehr Druck durch die Politik, z.B. in Form eines Kontrollausschusses für werbefinanzierte soziale Netze.

Jürgen Beckmerhagen

Bild: „Textura“ by Isa Velarde is licensed under CC BY-NC-ND 4.0