Der Ort, die Menschen und …… das Wesentliche
Zu den Menschen, die die Teilung Deutschlands als beständigen Begleiter erlebt haben und den Ort der „Berliner Mauer“ ebenfalls, gehöre ich. Nach dem großen deutschen Ereignis war 1991 auf einem Teilstück dieser Mauer ein Zitat von Erich Fried zu lesen:
„Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.“
Das Erleben einer solchen Veränderung kann den Sinn schärfen für das Wahrnehmen dessen, was jetzt ist. Schauen Sie sich mit mir ein wenig auf dem Schulgelände um, an dem Ort der Freien Waldorfschule Itzehoe. Neben allem, was hier schön und nützlich ist, was wir täglich genießen, gibt es einiges, das man übersieht, das man mit dem gewohnten Blick oder auf den ersten Blick nicht sehen kann.
So vielleicht auch dieser Stein, der einen weiteren Stein als Sockel hat – niedrig, leicht zu übersehen und verwunderlich. Eine Fläche ist mit einer Art Symbol versehen, einem Kosmogramm. Brigitte Engelhorn hat ihn 2012 erstellt, nachdem sich 2011 einige Menschen intensiver mit unserem Schulort befasst hatten – diese Beschäftigung begann bereits im Jahr 2003 und hatte immer wieder Unterbrechungen und wechselnde Zusammensetzungen.
Der Stein steht dort, wo nach unserer „Arbeit“ erkannt wurde, dass es ein Ort ist von – vielleicht noch nicht erkennbarer – Qualität. Wir konnten uns einfinden in die Idee, dass dort noch etwas wartet. Um das zu erkennen, hatten wir uns vorgenommen, mehr aufzuräumen. Sie kennen das eventuell von zu Hause: Bevor man sich entschließen kann: „Das muss jetzt verändert werden! Wir brauchen einen anderen Essbereich, neue Tapeten oder einen Teich im Garten…“, geht man mit einem anderen Blick durch den Raum. Und Aufräumen ist dann hilfreich.
So ist nun der erste Teil des Fahrradunterstandes abgebaut, der zweite folgt. Die Vertiefung daneben ist eher ein Relikt; da stand für lange Zeit eine Holzbrücke unter der sich das abfließende Regenwasser sammelte. Wird dieser Teil so bleiben?
Das Wasser ist eigentlich ein bestimmender Wesenszug dieses Ortes, so könnte man meinen. Immerhin liegt das Gelände erdgeschichtlich im Elbeurstromtal, das in den Eiszeiten das Schmelzwasser in die Nordsee führte. Nach dem ersten Workshop mit Johanna Markl (Institut für Geomantie) stellte sie fest, dass nicht das Wasser, sondern die sog. Luftäther und Erdäther hier dominieren. Der Bauernhof, den die Familie Kähler vor über 130 Jahren übernahm, lag auf einer geologischen „Sandbank“. Zur Störmarsch hin fällt das Gelände hinter dem Kindergarten um ein bis zwei Meter ab. Dort waren fruchtbare Böden, hier relativ sicherer Baugrund, ein guter Standort für einen Bauernhof.
Als wir diesen Ort 1985 (?) als möglichen Schulort in Augenschein nahmen, war das noch zu spüren. Der Hof stand leer, ein Zirkus hatte dort sein Winterquartier gehabt. Die Birkenreihe führte damals zum Eingang des Hofes und besteht heute nur noch aus vier Birken, die den Spielplatz abgrenzen. Der Blick über die Marsch ging bis zum Stördeich.
Wenn wir uns heute, am Stein stehend, umsehen, dann ist es eine Schule: Die fünf Schulgebäude, das Haus Hansen, das Bistro- und Kunsthaus, die Pavillons als “Keimzelle“ der Schule, der Kindergarten und der Kählerhof. Die niedrigen Mäuerchen bilden ein Fünfeck. In den ersten Jahren haben die Schüler der dritten Klassen sie handwerklich gegründet und gemauert. Darin wurde der Bergahorn gepflanzt, damals ein Mittelpunkt.
Wir fühlen uns wohl, es ist eine gute Umgebung. Dennoch wissen wir, dass es sich verändern wird – siehe Erich Fried. Selbstverständlich kommen ständig Ideen in den Sinn, was noch „aufgeräumt“ werden sollte, wo endlich mal etwas Neues entstehen sollte usw. In den Arbeitstreffen unter Anleitung von J. Markl und B. Engelhorn haben wir versucht, uns auf eine andere Art der Wahrnehmung einzulassen. Es war sehr erstaunlich, dass die teilnehmenden Menschen an den gleichen Orten auf dem Gelände gleichartige Erlebnisse hatten, die sich ihnen aber unterschiedlich zeigten. Gerne wollen wir in solcher Weise weiter erfahren, welche Wesen wir an diesem Ort unterstützen können und wo wir in der richtigen Art etwas tun sollten. (Art: mhd. Abstammung, Herkunft, .. , Wesen.. – aus: Duden Herkunftswörterbuch) Die Natur schafft ständig die Umwandlung, Metamorphosen. Wenn der Mensch etwas verändert, ist es künstlich und nicht natürlich. Nach Rudolf Steiner ist es die Aufgabe, die gesamte Erde künstlerisch zu verändern. Wir Menschen haben es eher schwer damit, gerade dann, wenn wir eine Gruppe von Menschen sind, die vom Kommen und Gehen geprägt ist. Es ist dadurch viel leichter, wenn eine gemeinsame Idee erkannt wird, vielleicht sogar als Geist, als Wesen erkannt wird.
Wilhelm Missall, ein ehemaliger Kollege, war der Aufforderung der Redaktion der „Flensburger Hefte“ im Jahr 2003 gefolgt und hatte zu dem Thema „Was die Naturgeister uns sagen“ eine Anfrage gestellt, wie sich denn die Waldorfschule Itzehoe entwickeln werde. Zitate aus der Antwort:
Der Steinerne, der sich für uns etwas ungewohnt ausdrückt: „… Die Verbindung mit dem Boden ist dort sehr stark gewesen, und es muss der Boden dem Wesen der Weisheit geöffnet geworden gewesen sein, damit Lehre entstanden gewesen sein kann. Sehr langsam kann die Kleie nur das Licht durchgelassen gehabt haben. Es wird helfen gekonnt haben, wenn ganz viele Blumen und Birken zur Mithilfe gebeten worden sind.“
Der Müller: „… Der Hausgeist würde mit Tanz sich besser an die neue Verwendung seines Hauses gewöhnen. Prozesse zur vollständigen Umwandlung von alten Gebäuden zur neuen Nutzung benötigen ein Siebtel der Zeit, die das Gebäude existiert.“
Nach der neuen, offenen Gestaltung des Eingangsbereiches hatten wir eine Baumpflanzung geplant, die einen mehr hüllenden Charakter geben möge. Die Tatkraft und das freudige Miteinander der etwa dreißig Familien, die im Frühjahr 2011 die Ebereschen und Hainbuchen in die Erde brachten, waren wieder ansteckend. Blumenzwiebeln wurden gesteckt und der Werkeltag neu belebt.
Im Jahre 2011 hatten wir auf dem Gelände auch eine gemeinsame Arbeit, bei der wir eine Gliederung in vier Richtungen erkennen konnten – zum Kählerhof, zum Eingang, zum Pavillon, zum Lindensechseck, die dann auch zu dem Kosmogramm geführt hat. Auch das unterliegt ja der Veränderung, aber der Stein erinnert uns daran, dass wir als Menschen auch an der Metamorphose teilnehmen können. Knotenpunkt, Sammlungsort, Zentrum, … wir werden sehen.
Wenn auch Sie daran teilhaben möchten, sind Sie herzlich eingeladen. Über das Schulgelände gehen, nicht mit dem Alltags-Gang, der mich dort hinführt, wo ich gerade hin will, sondern „einfach so“. Den Kopf nicht gefüllt mit Gedanken, mit Absichten. Nur erleben, sehen, hören, wahrnehmen – also so, wie es gerade ist, als Wahrheit annehmen, auch so, wie ich mich gerade fühle.
Sönke Nagel