Handarbeiten

Stricken, Häkeln, Sticken, Nähen! Diese Tätigkeiten werden gerne auch von Menschen, die sonst wenig von der Waldorfpädagogik wissen, mit der Waldorfschule in Verbindung gebracht.

Der Waldorfpädagogik sind das Erlernen dieser Fertigkeiten in der Entwicklung des Kindes tatsächlich sehr wichtig – und dies nicht etwa aus Tradition oder aus dem Wunsch heraus, dass jedes Kind, das die Waldorfschule besucht, seine Strümpfe selber stricken können sollte. Vielmehr führt die Tätigkeit mit den Händen zu einem Be–greifen, Er-fassen der Welt, indem sich bewahrheitet, dass geschickte, bewegliche Hände auch zu einem beweglichen Denken führen. (siehe dazu auch die Erkenntnisse der heutigen Gehirnphysiologie). Das gilt gleichermaßen für Mädchen und Jungen, sodass in der Waldorfschule kein getrennter Werk- und Handarbeitsunterricht für Jungen und Mädchen stattfindet.

Ab der ersten Klasse wird in der Waldorfschule Handarbeit unterrichtet. Bis einschließlich der siebten Klasse sind die Kinder ihr gesamtes zweites Lebensjahrsiebt mit der reinen Handarbeit beschäftigt, denn in dieser Zeit werden in der Regel noch keine Nähmaschinen, Webstühle oder andere Maschinen eingesetzt.

1, 2 und 3, könnte als „pentatonisch“ bezeichnet werden. Entliehen aus der musischen Ausbildung, die zur gleichen Zeit ebenfalls pentatonisch geprägt ist, umschreibt der Begriff eine Zeit, in der die Harmonie zwischen Denken, Fühlen und Wollen im Handarbeitsunterricht sehr ausgeprägt ist. Maßangaben beziehen sich in dieser Zeit nicht auf Millimeter, Zentimeter und Meter, sondern auf den eigenen Körper als das Maß der Dinge.

Wir sprechen von „so lang wie deine Hand – so lang wie dein Unterarm – so lang wie dein ganzer Arm“.

Beschreibungen sind nicht technischer, sondern bildhafter Natur. Märchen und Fabeln sind Quellen unserer Vorlagen und Vorstellungen.

Das Kind arbeitet von einem „unendlichen Faden“ (dem Knäuel). Das Ganze und ihre Sinnbilder – die Kugel und der Kreis – sind Ausgangspunkt der Dinge, die in den Händen der Kinder entstehen.

Im Grunde beziehen wir die Kräfte, mit denen die Kinder in dieser Zeit des Handarbeitsunterrichts arbeiten, aus den Ätherkräften. Ein anderes Wort für „Ätherkräfte“ ist „Gestaltbildungskräfte“.

Und hier erschließt sich dem Beobachter ein Phänomen, bei dem zum Beispiel eine Hand voll Schafschurwolle in den Händen der Kinder zu einem beseelten und belebten Schaf oder einer Katze werden kann.

Der zweite Abschnitt (Klasse 4) bedeutet eine Wende. Das Kind überschreitet eine Schwelle, die die „pentatonische“ Zeit von der „griechischrömischen“ Zeit trennt. In dieser Zeit beschäftigen sich die Kinder vor allem mit dem Kreuzstich, einer strengen, gleichförmigen Form der Stickerei, bei der die Kinder Regeln einhalten müssen und bei der auch hinter die Dinge geschaut werden muss (die Rückseite muss ebenso gleichmäßig aussehen wie die Vorderseite).

Das Überschreiten dieser Schwelle führt die Kinder in eine Handarbeit, in der das Maß der Dinge der Zollstock und das Maßband sind. Eine Zeit, in der mit festen Werten gearbeitet werden muss, so wie die Fäden und Garne, mit denen jetzt gearbeitet wird, „abgeschnittene Fäden“ sind, die nicht zu lang und nicht zu kurz sein dürfen.

Verbindlichkeit und Genauigkeit sind jetzt wichtig.

Erst jetzt lernen die Kinder auch den bewussten Umgang mit der Schere. Die Tiere, Puppen und Taschen, die nun gefertigt werden, können nur entstehen, wenn aus dem einen Zentimeter Nahtzugabe nicht einmal zwei und das andere Mal nur ein halber Zentimeter werden.

Die reine Handarbeit endet hier und geht über in eine mehr technisch geprägte Handarbeit, bei der unter anderem elektrische Nähmaschinen und mechanische Webstühle eingesetzt werden oder eher festere, weniger textile Materialien, beispielsweise Weidenruten beim Korbflechten oder Kartonagen in der Papierwerkstatt, verarbeitet werden.

Gerhard Sommer,
überarbeitet von Elke Müller