2019 – ein bewegendes Jahr

2019 neigt sich seinem Ende zu. Es war ein bewegtes Jahr und ein bewegendes zugleich.

Bewegt, weil der Terminkalender voll war mit Veranstaltungen anlässlich des einhundertsten Geburtstags der Waldorfschulen. In Anbetracht einer überwältigenden Marketingaktion konnte selbst die renommierteste Tages- und Wochenpresse nicht umhin, regelmäßig polarisierende Beiträge zur Waldorfpädagogik und über ihren Begründer, Rudolf Steiner, zu veröffentlichen. Die positiven Berichte überwogen und stellten die wenigen negativen meist in den Schatten.

Wer von den zahllosen Ansprachen und Aufführungen nicht restlos betäubt war, hatte vielleicht noch die Muße, sich mit der Biographie der Väter der Waldorfbewegung zu beschäftigen. Auch hier wieder die Frage: „Bist Du für oder gegen Steiner, für oder gegen Waldorf?“ Oder, wie es ein guter Freund kürzlich andeutete: „Bist Du aufgeklärt oder nicht?“ Ein „Sowohl-Als-Auch“ scheint unmöglich zu sein.

Wer wollte heutzutage nicht behaupten, aufgeklärt zu sein? Spätestens bei der Frage nach dem Grad der eigenen Aufklärung hätte ich gerne gewusst, wie vor 40 Jahren die Urväter der Itzehoer Waldorf-Bewegung auf diese provokante Frage geantwortet hätten. Zu ihnen gehörten immerhin der Studiendirektor und Deutsch- und Geschichtslehrer Nico Hansen, den seine Schüler des Kaiser-Karl-Gymnasiums zum Kreis der liberalen Lehrer zählten, der Chirurg Dr. med. Joachim Möbius und ihre nicht minder einflussreichen Ehefrauen. Den Aufzeichnungen und Veröffentlichungen aus jener Zeit ist u.a. zu entnehmen, dass sie sich regelmäßig in Lesekreisen mit den Texten von Rudolf Steiner befassten. Ob kritisch oder nicht – darüber schweigen die Dokumente.

100 Jahre Waldorfschule in Deutschland und 40 Jahre Waldorf in Itzehoe – und alles begann mit einer Idee, der Worte und Taten folgten. Eine Idee, die zündete und viel, sehr viel in Bewegung setzte. 

Hatten unsere Urväter jemals Zweifel an ihren Gedanken, Worten und Werken? Diese Frage stelle ich mir oft, wenn ich von meinem Fenster aus auf die Baustelle unseres zweiten Kindergartenbaus schaue, wenn ich über den Erwerb weiterer Flächen von der Stadt, die Sanierung von Beleuchtung, Sanitäranlagen, Heizung und Dächer unserer Gebäude oder den „DigitalPakt Schule“ nachdenke. Was wird aus dem Standort Itzehoe? Was wird angesichts der Klimaerwärmung aus unserem Land und unserem Planeten? Was wird angesichts der Digitalisierung aus unserer Gesellschaft?

Spätestens hier halte ich es mit dem polnischen Philosophen Stanislaw Lem: „Der Pessimismus der Vernunft verpflichtet zum Optimismus des Willens!“ Oder wie Buchautor Frank Schätzing 2005 in einem Interview mit dem Spiegel sagte: „Pessimismus ist der Schatten, den der Optimismus werfen muss, um ernst genommen zu werden. Alles andere ist Naivität.“

In diesem Sinne freue ich mich auf ein weiteres Jahr mit Waldorf in Itzehoe und möglichst vielen vernünftigen Optimisten. Bleiben Sie gesund!

Jürgen Beckmerhagen

Bild: Einlass zur Waldorf-100-Feier am 19.9.2019 im Tempodrom, Berlin. J. Beckmerhagen