Der Junge auf dem Berg

Die Geschichte ist in einem Satz erzählt: „Ein von Minderwertigkeitsgefühlen geplagter französisch-deutscher Waisenjunge opfert seine Liebsten und seine eigenen Werte verführerischen Allmacht- und Gerechtigkeitsfantasien.“

Diese Geschichte ist so banal wie ungeheuerlich, und doch ist sie alltäglich.

Gerade das machte das Buch „Der Junge auf dem Berg“ so attraktiv, dass die Schülerinnen und Schüler der achten Klasse daraus selbständig ein Bühnenstück schrieben. Die Texte formten sie aus den Dialogen im Buch. Die Bühnenbilder, das Licht und die Kostüme entwarfen sie selbst. Auf diese Weise beschäftigte sich jeder und jede von ihnen mit der wohl wunderbarsten und zugleich schrecklichsten Fähigkeit des Menschen: an Dinge zu glauben, die es gar nicht gibt.

Ich kenne das Buch. Ich kenne die Gegend, in der die Geschichte spielt. Die Gipfellandschaft. Die Seen. Die Bergbäche. Die Wälder. Die kühle, frische Luft. Die Sonne. Die Tiere. Die Blumenpracht. Die Kräuter. Den Almabtrieb. Ich kenne das Kind, um das es hier geht – es lebt in jedem von uns. Es träumt vom Groß-Sein, vom Unbesiegbar-Sein, von Gerechtigkeit und will sich des Gefühls, verkannt und nicht gewürdigt zu sein, entledigen. Koste es, was es wolle. Hier auf dem Berghof in Obersalzberg drängen sich ihm Allmachtfantasien geradezu auf.

Die Grausamkeit eines Glaubens an eine universelle Moral, verkörpert durch weltliche oder geistliche Führer, wird uns leider erst bewusst, nachdem Kinder ihre Eltern und Verwandten verrieten, Ehemänner und Väter sechs Millionen Juden hinrichteten oder Menschen mit Erkenntnissen aus höheren Welten Freundschaften und Familienbande zerbrachen. Die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft mit einem Führer, der Gerechtigkeit und eine bessere Welt verheißt, der für den Zusammenhalt Mythen, Riten und Symbole nutzt, ist verlockend. Sie verschafft uns Geltung.

Kann es einen gerechten Krieg geben? Für Menschenrechte? Für das Vaterland? Für den reinen Glauben? Ich würde diese Frage gerne dem Soldaten im Schützengraben stellen, unmittelbar bevor ihn ein Granatsplitter trifft. Oder dem Mädchen unmittelbar bevor ihre Haut von Napalm getroffen und verbrannt wird. Oder den Müttern aus Aleppo und Mariupol, während sie mit ihren Kindern Schutz vor Fassbomben suchen. Leid ist unparteiisch.

„Gewalt mit Gewalt zu vergelten, vermehrt die Gewalt und macht eine Nacht, die schon sternenlos ist, noch dunkler. Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben; das kann nur das Licht. Hass kann den Hass nicht vertreiben; das kann nur die Liebe.“

Diese Weisheit von Martin Luther King stellten die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse ihrem Theaterstück voran. Sie werden diesen Gedanken ihr Leben lang nicht vergessen.

Jürgen Beckmerhagen

Foto: Kasimir in der Rolle des „Pierrot“ – Jürgen Beckmerhagen