Ein Zeitzeuge der Shoah – Ivar Buterfas‘ bewegende Erzählung
Ivar Buterfas-Frankenthal, einer der letzten Zeitzeugen und Überlebender des Holocaust, besuchte unsere Schule am 15. 10. 2024, gemeinsam mit seiner Frau Dagmar Frankenthal, für einen bewegenden Vortrag vor den Schülerinnen und Schülern der 8. bis 12. Klasse.
Im Januar 1933 wird Ivar Buterfas in Hamburg geboren, Sohn eines Vaters jüdischen Glaubens aus wohlhabender, bürgerlicher Familie und einer christlichen Mutter. Er ist der Jüngste von acht Kindern. Damit ist sein Schicksal auf grausame Weise vorbestimmt: Unter den Nürnberger Rassegesetzen wird er als „Halbjude“ eingestuft. 1939 endet seine gerade beginnende Schulzeit jäh. Beim morgendlichen Fahnenappell, nach Absingen des Horst-Wessel-Liedes, brüllt der Schulleiter der Grundschule Hamburg-Horn in SA-Uniform: „Buterfas, tritt einmal hervor!“ Er gehöre nicht in diese Schule, so der Schulleiter: „Pack deine Sachen, du kleiner Judenlümmel, und verschwinde von hier, du sollst unsere Luft nicht mehr verpesten!“ Unter dem Gejohle seiner Mitschülerinnen und Mitschüler verlässt der kleine Ivar die Schule, er, der nicht einmal weiß, was ein Jude ist.
Mehrere Hitlerjungs verfolgen ihn und quälen ihn mit einer Zigarette. Doch die Grausamkeit steigert sich noch. Sie entfachen ein Feuer unter einem Eisenrost und zerren Ivar darauf, um zu sehen, “wann der Jude gar ist“. Passanten, die die lauten Schreie hören, befreien das Kind endlich.
Immer wieder mahnt Ivar Buterfas-Frankenthal die Schülerinnen und Schüler: „Ihr müsst mir versprechen, dass so etwas nie wieder passiert!“
Seine Erlebnisse sind Antrieb für sein unermüdliches Wirken. Dazu gehören seine Bücher und auch sein Engagement für die Gedenkstätte Sandbostel und die Hamburger Nikolaikirche. Sein Ziel sei es, so Buterfas-Frankenthal, mit seiner Lebensgeschichte die jungen Menschen in ihren Herzen zu berühren und der Gefahr von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland entgegenzuwirken. Er unterstreicht, dass wir alle für die Erhaltung der Demokratie eintreten sollen. „Unser Land dürfen wir nicht leichtfertig durch eine falsche Wahlentscheidung in Gefahr bringen“, so Buterfas.
Ivar Buterfas-Frankenthal wurde für sein Engagement vielfach geehrt, er ist Träger des Verdienstordens Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland sowie des Weltfriedenspreises, gemeinsam mit seiner Ehefrau ist er Autor zahlreicher Bücher, das zuletzt erschienene Buch konnten wir auf der Veranstaltung auch erwerben, es heißt „Von ganz, ganz unten“ und beschreibt ihr gemeinsames Leben. Sie haben die Diamantene Hochzeit 2015 gefeiert und wollen im kommenden Jahr ihr christliches Ehegelübde erneuern.
Nach der Berliner „Wannseekonferenz“ am 20. Januar 1942 beginnt das industriell organisierte Morden an Juden, Sinti und Roma, an Homosexuellen und Oppositionellen. Das hat auch Auswirkungen auf das Leben der Familie Buterfas. Der Vater ist bereits im KZ. Er ist einer der vielen „Moorsoldaten“, die unter menschenunwürdigen Bedingungen Moore trockenlegen und Torf stechen mussten. Der Mutter Orla wird geraten, nach Osten zu fliehen, um sich mit ihren Kindern in Sicherheit zu bringen. Sie machen sich in Richtung Danzig auf und finden in der Tucheler Heide (Westpreußen) ein Quartier in der Scheune eines Landguts. Dort bleibt die Mutter mit ihren Kindern im Versteck, bis sie verraten werden. Um der Verhaftung zu entgehen, bringt die tapfere und couragierte Frau ihre ganze Familie über 800 km zurück in das zerbombte Hamburg. In einem Keller finden sie einen notdürftigen Unterschlupf. Nachts suchen die Kinder in der typhusverseuchten Stadt unter den Trümmern nach Lebensmitteln. Dank der Hilfe einer guten Freundin und wohl auch mit viel Glück überlebt die ganze Familie den Krieg.
Nun, so glauben sie, würde alles wieder werden wie früher. Doch sie werden eines Besseren belehrt. Viele Nationalsozialisten haben ihre Stellungen und ihren Einfluss behalten, die Atmosphäre bleibt feindlich. Den Kindern, die durch das Reichsbürger-Gesetz von 1935 ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatten, verweigert man diese weiterhin unter fadenscheinigen Argumenten. Eine Ausbildung oder ein normales Leben sind so nicht möglich, die Demütigung geht weiter. Erst 1964, und das ist wirklich kaum zu glauben, erhält Ivar die Staatsbürgerschaft zurück. Die Kinder der Familie werden aufgrund des jüdisch klingenden Nachnamens aber weiterhin angefeindet und diskriminiert.
Es ist wohl eine der letzten Veranstaltungen des Ehepaars, der wir zuhören durften, denn Ivar Buterfas-Frankenthal ist fast 92 Jahre alt. Seit mehr als 30 Jahren und auf mehr als 1600 Veranstaltungen in Schulen und Universitäten klärte das Ehepaar, immer gemeinsam, über das dunkelste Kapitel unserer Geschichte auf.
Nach dem intensiven und beeindruckenden Vortrag bekommen die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, Fragen zu stellen. „Fragt alles, was ihr wollt!“, ermuntert Buterfas und viele folgen der Aufforderung. Am Ende mahnt er noch einmal, sich das Gehörte zu Herzen zu nehmen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. „Es gibt nicht mehr viele, die Euch das erzählen können.“
Viele scharen sich am Ende des Vortrags um die beiden alten Menschen, sie wollen ihre Hand schütteln und das Buch mitnehmen und auch das Faksimile des Fremdenpasses, der ihn einst aus seiner Heimat ausgegrenzt hat.
Als Waldorfschule ist es uns wichtig, nicht nur die Erinnerung an das Leid der Opfer des Holocaust zu bewahren, sondern auch unsere eigene Geschichte kritisch zu reflektieren. Wir sind uns bewusst, dass die Anthroposophie als philosophische Grundlage der Waldorfpädagogik in ihrer Entstehungszeit problematische rassistische Aussagen von Rudolf Steiner enthält, die heute zu Recht kritisch hinterfragt werden. Wir distanzieren uns ausdrücklich vom Rassismus und jeder Form von Diskriminierung und sehen es als unsere Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen. In einer Zeit, in der rassistische, antisemitische und rechtsextreme Ideologien wieder an Stärke gewinnen, ist es wichtiger denn je, dass Schulen klare und deutliche Positionen gegen Hass und Intoleranz einnehmen. Deshalb sehen wir es als unsere Pflicht, nicht nur durch Veranstaltungen wie den Vortrag, sondern auch im Alltag entschieden für eine offene, vielfältige und inklusive Gesellschaft einzutreten und unsere Schülerinnen und Schüler zu mündigen, empathischen und engagierten Bürgern zu erziehen.
Itzehoe im Oktober 2024
Marianne Flämig-Müller
Jürgen Beckmerhagen