Ralf Stegner zu Besuch

Wir stehen zu dritt am Eingang unserer Schule und witzeln darüber, dass er vielleicht doch nicht kommt. Frau Wegner fragt sich, ob er ihre Handy-Nummer hat. Was, wenn er versucht hat, sie zu erreichen und sie steht hier am Tor? Wir denken über ein Alternativ-Programm für die rund 100 Schülerinnen und Schüler in der Halle nach. „Birte macht das schon. Sie ist in der Halle.“

In dem Moment hält ein bronzefarbener Volvo auf das Eingangstor zu. Das kann nur ein Fremder sein. Niemand aus unserer Schule kommt auf die Idee, auf das Schulgelände zu fahren. Ist er das? Es sitzt nur eine Person am Steuer. Wir hatten mit einer schwarzen Limousine, Fahrer und Body-Guards und einem im Fond sitzenden, in einen schwarzen Anzug gehüllten Herrn mit Aktentasche gerechnet. Diese Erscheinung deckt sich nicht mit unserem Bild. Aber … er ist es wirklich: Ralf Stegner. Der Mann, der gefühlt alle drei, vier Wochen bei Markus Lanz im Clubsessel sitzt und zumeist provokative Fragen beantwortet. Allen, die wie ich Markus Lanz‘ Talkshow nicht schauen, sei verraten, dass Ralf Stegner SPD-Politiker und Mitglied des Deutschen Bundestages ist. Dort gehört er u.a. dem stets hinter verschlossenen Türen tagenden Auswärtigen Ausschuss an. Der gebürtige Pfälzer wohnt mit uns im Land zwischen den Meeren und war einst Schleswig-Holsteins Finanz- und Innenminister.

Seit 2007 gehen im Rahmen des jährlich einmal stattfindenden EU-Projekttages bundesweit Politikerinnen und Politiker an Schulen und stellen sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler. Wir bewarben uns und ausgerechnet Ralf Stegner suchte sich unsere Schule aus.

Stegner entschuldigt sich für die kleine Verspätung. Ein Trecker … In der Halle warten bereits Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 11. In den Tagen zuvor überlegten sie sich Fragen rund um Europa. „Heute morgen sind wir noch einmal die Fragen durchgegangen“, berichtet Frau Wegner, „aber es sind inzwischen viele neue hinzugekommen, die ich Ihnen nicht mehr schicken konnte.“ Stegner: „Das macht nichts. Das bin ich gewohnt.“ „Das schönste am Norden sind unsere Überraschungen.“ Ich verkneife mir die Bemerkung.

Im Saal scheint es, als wollten unsere Schülerinnen und Schüler den Politiker erst zaghaft und zunehmend entspannter zum Klingen bringen. Stegner lässt sich auf das Spiel ein. Fragen zur Bildungspolitik, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zur Steuergerechtigkeit, zur Förderung der Wissenschaft, zum Lobbyismus, zum Klimawandel, zur Energiepolitik, zur Flüchtlingspolitik und natürlich zum Krieg in der Ukraine. Die Fragen nehmen kein Ende und treiben den Politiker quer durch die deutsche, europäische und globale Politikwelt. Als letztes stellt eine Lehrerin eine Frage zur Finanzierung der Privatschulen. Bildung ist Stegners Steckenpferd. Er spricht das ungerechte Gefälle zwischen den Lehrergehältern an öffentlichen und privaten Schulen an. Er sieht den schier unüberschaubaren Mangel an Lehrkräften und den sich daraus ergebenden Konkurrenzkampf der Schulen.

Am Ende bleiben die für Body-Guards und Fahrer bereitgestellten Getränke und belegten Brötchen unangetastet. Schade. Dafür nimmt Ralf Stegner gerne die Blumen von Frau Wegner entgegen.

Auf dem Weg zu seinem Wagen stelle ich ihm die Fragen, die mich am meisten interessieren – die Fragen nach dem Warum. Warum wurde er Politiker. Warum treibt er sich ständig bei Markus Lanz herum. Und … hat er den Politikerberuf jemals bereut?

Nein, er hat nach 40 Jahren in der Politik die Entscheidung nie bereut. Auch nicht, dass er sich für die SPD entschieden hatte. Die Grünen waren ihm in Sachen Umweltpolitik zwar sympathisch, aber das Soziale fehlte ihm.

Stegner wuchs in den 60ern und 70ern in Rheinland-Pfalz mit vier Geschwistern auf. Die Eltern betrieben eine Gastwirtschaft. Das Geld war knapp. Lernmittelfreiheit gab es in diesem Bundesland seinerzeit nicht. Nur weil er mit der Straßenbahn über den Rhein nach Mannheim (Baden-Württemberg) fahren konnte, wo Schulbücher bereits kostenlos bereitgestellt wurden, war ihm der Besuch der Oberschule (Gymnasium) möglich. Ja, es gab eine Zeit, da konnten sich Eltern die Schulbücher für den Besuch des Gymnasiums nicht leisten. Diese soziale Ungerechtigkeit war der Impuls für Stegners Engagement in der Politik. Bis heute.

Ach, und bei Markus Lanz war er bereits 12 mal. „Es gibt nur wenige, die offen ihre Meinung aussprechen wollen, da sie mit der Kritik nicht umgehen können. Ich kann das.“ So Stegner. Auf die Familie angesprochen gibt Stegner unumwunden zu, dass die am meisten unter seinem politischen Engagement und der oftmals unangemessenen Reaktion fragwürdiger Menschen leidet. Auch das eint uns.

Egal wie man zu Stegners politischer Weltanschauung steht – von ihm können wir lernen, wie wir uns für Demokratie und für deren Institutionen einsetzen können. Es lohnt sich.

Dank an Frau Wegner und Herrn van den Toren für ihr Engagement im Rahmen der EU-Projekttage an Schulen.

Jürgen Beckmerhagen

Fotos: Jürgen Beckmerhagen