Wohin führt die Digitalisierung

Bevor ich mich in diesen Osterferien zusammen mit meiner Frau für vier Tage auf die Hochseeinsel Helgoland zurückziehe, greife ich noch schnell ins Regal und stecke die April-Ausgabe der Monatszeitschrift „Erziehungskunst“ ein. Das Waldorf-Blatt titelt diesmal „Wohin führt die Digitalisierung?“ „Waldorf halt“, denke ich und mache mir wieder bewusst, dass ich für die Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorf-Einrichtungen in Schleswig-Holstein die Umsetzung des „DigitalPaktes Schule“ koordinieren will.

Beim Lesen des Editorials bin ich als Informatiker etwas verwirrt. Nicht genug, dass der als „PISA-Chef“ titulierte ehemalige Waldorfschüler Andreas Schleicher ob seines positiven Blicks auf das Potenzial der digitalen Entwicklung im pädagogischen Umfeld pauschal kritisiert wird, nein – gleich zu Beginn des Heftes steht der Rahmen „Analog gut, Digital schlecht“.

In mir festigt sich der Eindruck, dass viele Mitmenschen übersehen, dass der „DigitalPakt Schule“ der logisch nächste Schritt eines staatlichen Bildungssystems ist, von dem seit 100 Jahren auch die Waldorfschulen ein Teil sind.

Aber was meinen Pädagogen wenn sie von „analog“ und „digital“ sprechen? 

Im technischen Umfeld benennen „analog“ und „digital“ lediglich zwei verschiedene, komplementäre Signalverarbeitungsverfahren, wobei das eine meist anhand von Sinuswellen mit Amplituden und Frequenzen und das andere mit Nullen und Einsen in Form von Bits und Bytes dargestellt wird.

Offensichtlich bezeichnet der Begriff „Analog“ im pädagogischen Kontext aber eher die unmittelbare sensorische Wahrnehmung der realen Welt mithilfe unserer natürlichen Sinnesorgane. Im Technikkontext ist hingegen eine Art der elektromagnetischen Speicherung und Übertragung von Signalen gemeint, z. B. in Form von analogem Rundfunk, Schallplatten, Magnetbändern oder Fernsprechern.

Der Begriff „analog“ hat sich im pädagogischen Kontext zum Synonym für natürliche sensorische Wahrnehmung gemausert. Dies muss ich wissen, bevor ich mich auf Diskussionen über die Digitalisierung einlasse.

Da sind die Autoren der Bund-Länder-Vereinbarung zum „DigitalPakt Schule“ für mich klarer, wenn sie unter Punkt 2 ihrer Präambel schreiben: „Bildung für die digitale Welt bedeutet, allen Schülerinnen und Schülern die Entwicklung der Kompetenzen zu ermöglichen, die für einen fachkundigen, verantwortungsvollen und kritischen Umgang mit Medien in der digitalen Welt erforderlich sind. Dabei muss das Lehren und Lernen in der digitalen Welt dem Primat des Pädagogischen folgen.“ Wäre ein Waldorfpädagoge an der Formulierung beteiligt worden, wäre sicherlich der Umgang mit Medien um das Attribut „kreativ“ erweitert worden.

„Primat des Pädagogischen“ … Scheinbar überlesen viele Pädagogen diese Einschränkung. Dabei will der „DigitalPakt Schule“ den Schulen ihre pädagogische Kompetenz nicht streitig machen und Lehrer durch Tablets, Laptops u.ä. ersetzen. Es bleibt den Pädagogen überlassen, ob und wann sie welche Medien im Unterricht nutzen wollen. Im Beitrag „Auf den Lehrer kommt es an“ empfiehlt Edwin Hübner ab Beginn der Pubertät die Einführung in den Umgang mit digitalen Technologien.

Nun bin ich kein Neurobiologe, aber die Argumente von Dr. Gertraud Teuchert-Noodt für eine absolute Medienabstinenz in den ersten 12 Lebensjahren sind auch von mir leicht nachzuvollziehen. Lesenswert ist auf jeden Fall das Gespräch zwischen ihr und Johanna Wenninger-Muhr in der Erziehungskunst. Eine klare Empfehlung für alle, die mit Manfred Spitzer und seiner dystopischen „Digitalen Demenz“ nichts anfangen können.

Kritisch sollte man sich eher mit dem Dreiecksverhältnis von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auseinandersetzen. Dabei wird man unschwer feststellen, dass dieses Beziehungsgeflecht seit 300 Jahren Grundlage unseres staatlichen Bildungssystems ist und nicht erst seit dem „DigitalPakt Schule“. Bildung soll, so formulierte es der eingangs erwähnte Andreas Schleicher in seiner Keynote auf der re:publica 2013, „… mehr Menschen darauf vorbereiten, an diesem Leben erfolgreich teilzunehmen“. Was „erfolgreich“ heißt bzw. nicht heißt, stellt er anhand einer Studie dar, die beispielsweise die Korrelation von unterdurchschnittlicher Lesekompetenz bei Erwachsenen mit niedrigem Einkommen, Arbeitslosigkeit, schlechter Gesundheit, mangelndem, ehrenamtlichem Engagement und fehlendem Vertrauen in sich und andere aufzeigt. 

Es ist ein Teufelskreis: in einer Gesellschaft, in der der Staat die Bildung verantwortet und das Individuum propagiert, in der Konsumismus (Markt) und Staatszugehörigkeit (Politik) an die Stelle klassischer Religionen rücken, verlieren Tradition, Familie und dörfliche Gemeinschaft ihren Wert und verkommen zu Folklore. Der „DigitalPakt Schule“ ist lediglich ein weiterer Schritt in diese Richtung. Kritik an der fortschreitenden Digitalisierung in der Schule greift daher viel zu kurz.

Ich kann Ihnen die Lektüre der April-Ausgabe der Erziehungskunst nur wärmstens empfehlen. Sollte die aktuelle, gedruckte Version nicht bei Ihnen angekommen sein, so können Sie die meisten Beiträge hier lesen: https://www.erziehungskunst.de/inhaltsverzeichnis/

Jürgen Beckmerhagen