1919 – als alles möglich schien

Vor ein, zwei Jahren hatte ich nach diesem Buch händeringend gesucht.

In diesem Jahr feierten wir die Gründung der ersten Waldorfschule vor genau 100 Jahren. Da ich mich selber nicht zu den Anthroposophen zähle und dennoch meine jüngste Tochter unsere Waldorfschule besucht, deren wirtschaftliche und juristische Belange ich zusammen mit dem Vorstand verantworte, wollte ich spätestens in diesem Jubiläumsjahr eine gefühlte Leere schließen. Ich war schon lange auf der Suche nach dem „historischen Rudolf Steiner“ und nach dem Gründungsimpuls der Schule für Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. Ähnlich wie Astronomen mit ihren Teleskopen den Urknall als ein beständiges Hintergrundrauschen wahrnehmen und inzwischen selbst die von Explosionen in unvorstellbar weit entfernten Galaxien ausgelösten Gravitationswellen in Raum und Zeit nachweisen, so bin ich davon überzeugt, dass der Gründungsimpuls jedweder sozialer Institution zeitlebens spürbar ist.

Ich wollte Umstände und Ursache verstehen, die zur Gründung der ersten Waldorfschule führten. Zu den politischen, wirtschaftlichen, geistes- und naturwissenschaftlichen Umständen fanden sich schnell zahllose Tagebücher, Biographien, Essays, Bilder und Filme. Egal aus welcher Perspektive die Ereignisse in den Monaten nach dem ersten Weltkrieg auch beleuchtet wurden – dem Betrachter bietet sich stets ein düsteres Bild mit dunklen Wolken am Himmel. Kanonen, Gewehre. Demonstrationen auf den Straßen. Uniformierte Soldaten, denen der Krieg den letzten Rest an Menschlichkeit geraubt hat. Frauen ohne Männer. Kinder ohne Väter. Verqualmte Kneipen, in denen allabendlich Reden von Schwärmern, Träumern, Dichtern und Kriegsveteranen gehalten wurden. Ein Volk ohne Kaiser. Völlig orientierungslos. Wild um sich schießend. Mit Andersdenkenden wurde kurzer Prozess gemacht, bevor der politische Gegner im nächsten Augenblick die Macht an sich reißen konnte. In dem so gezeichneten chaotischen Bild fehlten mir die Anknüpfungspunkte zu Rudolf Steiner. Ich war überzeugt davon, dass die Begebenheiten im Nachkriegseuropa in seinen Gedanken, Worten und Taten mitschwangen – nur fehlten mir die Beweise.

Bücher, deren Autoren gezielt auf den Menschen Rudolf Steiner schauten, hatten ihren Schwerpunkt eher im Geisteswissenschaftlichen. Entweder belächelten die Autoren Rudolf Steiner und machten sich über die Anthroposophen und Theosophen lustig, sie empörten sich über einzelne seiner Worte oder sie verherrlichten den Mann als Guru. Bestenfalls waren diese Bücher erheiternd, oft auch verstörend, stets polarisierend, aber hilfreich waren sie zumindest nicht für mich. Denn Rudolf Steiner lebte und wirkte ja schließlich nicht alleine und nur aus sich heraus. Auch er wurde durch die Resonanz, die seine Worte bei Zuhörern und Lesern auslöste, beflügelt und hin und wieder unversehens mitgerissen. Warum ignorierten dann Autoren von Steiner-Büchern das Tagesgeschehen in Deutschland und Mitteleuropa?

Ganz anders Dietmar Schlecht-Nimrich. Mit seinem im Frühjahr dieses Jahres erschienenen Buch „1919“ legt er ein Tagebuch vor, in dem er Tag für Tag die Vorkommnisse in Deutschland und rund um Rudolf Steiner ausbreitet. So lässt sich leicht bei Rudolf Steiner und seinen Mitstreitern der Widerhall des Tagesgeschehens in Deutschland ausmachen. Sehr schnell werden direkte Zusammenhänge zwischen Passagen seiner zahlreichen Reden und denen von Politikern, Philosophen und Kulturschaffenden jener Zeit erkennbar. Gleichzeitig kann der Leser den Halt Rudolf Steiners in der geistigen Welt und die daraus erwachsene Energie nachempfinden – etwas, worum ihn auch heute sicherlich viele moderne Menschen beneiden. So sah Steiner die Ursache für die beunruhigenden Geschehnissen in Deutschland und Europa im rein materiellen Denken. Die Dreigliederung der sozialen Institutionen sollte der dritte, neue Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus sein. Dafür sollten mit dem noch verbliebenen Geld zuerst freie Schulen gegründet werden, „um den Leuten das beizubringen, was sie brauchten.“

Das Buch ist absolut lesenswert für jeden, der sich ein wenig für Geschichte erwärmen kann und vielleicht auch für jene, die nach neuen Impulsen für die heutige Politik und Gesellschaft suchen.

Dietmar Schlecht-Nimrich ist in besonderer Weise mit unserer Schule verbunden. Vor etwa 20 Jahren baute er in Itzehoe als Mathematik- und Biologielehrer die Oberstufe mit auf. Eine ehemalige Kollegin kann sich noch gut an ihn als „sympathischen, freundlichen und ruhigen Klassenbetreuer ihres Sohnes“ erinnern. Heute arbeitet Schlecht-Nimrich an der Freien Waldorfschule am Illerblick in Ulm.

Das Buch „1919 – als alles möglich schien“ kann gedruckt oder als eBook im Buchhandel, im BoD Buchshop und bei Amazon zum Preis von € 12 bzw. € 7,49 bestellt werden.

Jürgen Beckmerhagen.