Der Architekt, mit dem alles begann

Was waren das für Menschen, die unsere Schule gegründet hatten und bis heute prägen? Diese Frage stelle ich mir immer wieder und ganz besonders in den Momenten, in denen ich Eltern veranschaulichen möchte, dass diese Schule einer Elterninitiative zu verdanken ist.

Einem Initiator begegnen wir im Namen unserer Mehrzweckhalle, dem Haus Hansen, immer wieder. Nico Hansen, dem tatkräftigen Lehrer von der Kaiser-Karl-Schule. Nun ist mir leider das persönliche Gespräch mit Nico Hansen nicht mehr vergönnt, und so bleibt dieser Mann für mich ein Mythos unserer Schule.

Nico Hansen wird mir immer wieder als Beziehungsmensch beschrieben, als jemand, der nicht nur zu seinen Schüler:innen über viele Jahre hinweg herzliche und belastbare Beziehungen pflegte, sondern auch zu vielen anderen Menschen. Einem dieser Menschen, oder sollte ich sagen, dem Menschen, mit dem zusammen die Idee zur Gründung unseres Kindergartens und unserer Schule entstanden ist, durfte ich in der Vorweihnachtszeit bei einer kleinen Kaffeerunde begegnen.

Der Mann, von dem ich hier berichten möchte, heißt Hans-Peter Wiencke. Geboren wurde er 1938, also in der Zeit der Schreckensherrschaft in Deutschland und unmittelbar vor dem zweiten Weltkrieg. Als Deutschland 1945 kapitulierte, war er sieben Jahre alt – alt genug, um endlich in die Schule zu gehen und den Wiederaufbau auf seine Art zu unterstützen.

Wie Wienckes Gang durch die Schulzeit und die Zeit des Wiederaufbaus aussah, lässt sich nur erahnen. Mit einem schelmischen Blick konstatiert er, dass er es nie länger als anderthalb Jahre an einer Schule ausgehalten hatte. Willenskraft, Verantwortungsbewusstsein, Pragmatismus, Sparsamkeit – Wesenszüge, die sicherlich in dieser Zeit in Wiencke und seinen Altersgenossen gereift sind.

Nach der Schule geht er bei einem Tischler in die Lehre. Nach Erhalt des Gesellenbriefs studiert er Architektur und konzentriert sich auf den Städtebau und auf den Bau von Schulen.

Sein erstes Betätigungsfeld findet er in Braunschweig. Dort lebt er mit seiner ersten Frau, seiner Tochter und seinen beiden Söhnen.

Seine Eltern wohnten noch in Itzehoe. Als er sie einmal in den 60er Jahren besucht, findet er die alten Eltern nachts in ihrer durch die defekte Heizung völlig verqualmten Wohnung schlafend vor. Er muss nicht lange überlegen und beschließt, seine Zelte in Braunschweig abzubrechen und mit der Familie in das Elternhaus einzuziehen, um die Eltern unterstützen zu können.

Zurück in Itzehoe meldet er seine Tochter an der Kaiser-Karl-Schule an. Während Hans-Peter Wiencke den Neubau einer Schule in Kellinghusen vorantreibt, unterrichtet u.a. Nico Hansen seine Tochter. Während dieser Zeit wird es zu einigen nachhaltigen Begegnungen zwischen Nico Hansen und Hans-Peter Wiencke gekommen sein.

Schon lange nachdem Wiencke’s Tochter die Kaiser-Karl-Schule verlassen hat, ruft Hansen bei Wiencke an und bittet ihn um seinen Rat beim Ausbau der Garage des Ferienhauses auf Amrum. Dazu muss man wissen, dass Nico Hansen und seine Frau Margot zu der Zeit in Münsterdorf den Verlag „Hansen und Hansen“ betreiben. In ihm werden neben der umfangreichen Schriftenreihe „Sylter Beiträge“ zahlreiche andere Bücher mit vielfältigen Themen verlegt. Sie behandeln überwiegend geschichtliche, geografische und kulturelle Aspekte der norddeutschen Westküste, aber auch philosophische und soziologische Themen mit Titeln wie „Was ist der Mensch“, „Jüdisches Denken zwischen Aufklärung und Holocaust“, „Das behinderte Kind und die Gesellschaft“ und „Perspektiven eines neuen Humanismus“. Für diese verlegerische Tätigkeit nehmen die Hansens auch die Dienste eines Lektors in Anspruch, der – so der Plan – künftig ein eigenes Appartement auf der Garage des Amrumer Ferienhauses erhalten soll, und dabei soll Wiencke helfen.

Bemerkenswert ist auch, dass Hansens Sohn, Markus, zu der Zeit schon die Waldorfschule in Rendsburg besucht.

Die beiden Herren, so unterschiedlich ihre Interessen und Talente auch geprägt sein mögen, müssen sich sympathisch gewesen sein. Andernfalls hätte sich Hansen nicht nach Weggang der Wiencke-Tochter an den Architekten gewandt und dieser hätte sich angesichts eines wirtschaftlich eher nicht so lukrativen Auftrags kaum auf die Reise nach Amrum eingelassen.

Der Gedankenaustausch von Hansen und Wiencke kam recht schnell vom Bauplan ab und konzentrierte sich auf die deutsche Bildungslandschaft. Beide hatten ja einschlägige, wenn auch sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Schulen in Deutschland. Während sie also so in dem kleinen Amrumer Ferienhaus nach neuen Impulsen für das Schulsystem suchen, wird es Margot zu bunt. „Hört auf zu reden. Macht etwas. Gründet doch eine Schule“, will Margot Hansen gesagt haben. Zumindest erinnert sich Hans-Peter Wiencke an diesen energischen Anstoß aus der Küche. Am 3. November 1978 war also in einem kleinen Ferienhaus auf Amrum die Idee zur Gründung der Waldorfschule in Itzehoe geboren.

Zurück in Itzehoe werden Hansen und Wiencke einer Veranstaltung der Volkshochschule gewahr. Es soll die Waldorf-Pädagogik vorgestellt werden. Dort treffen Hansen und Wiencke auf andere Menschen, die sich ebenfalls für die Waldorf-Pädagogik interessieren, und gewinnen mehrere Mitstreiter für den Schulgründungsplan.

Nun geht alles recht schnell – vielleicht zu schnell. Der Verein zählt bald schon 120 Mitglieder. Nie zuvor hatte einer von ihnen eine Schule gegründet. Überhaupt hatten sie nie zuvor zusammengearbeitet und Gelegenheit, sich persönlich kennenzulernen. Alle wollten nur eines: eine Waldorfschule in Itzehoe.

Der „Verein zur Förderung einer Rudolf-Steiner-Schule in Itzehoe e.V.“ erhielt seinen Sitz in Münsterdorf.

Das Kollegium der Waldorfschule in Kiel half bei der Schaffung der geistigen Grundlage. Regelmäßig luden die Vereinsvorsitzenden Hansen und Wiencke und andere Vorstandsmitglieder zu Versammlungen mit Vorträgen ein, in deren Mittelpunkt meist die „Menschenkunde Rudolf Steiners“ stand.

Damit einige Schülerinnen und Schüler aus Itzehoe bereits in den Genuss der Waldorf-Pädagogik kommen konnten, wurde ein privater Fahrdienst nach Rendsburg organisiert. 

Irgendwann erhielten die Mitglieder den Rat, vor Gründung einer Schule einen Kindergarten zu schaffen und Verein, Kindergarten und Schule nicht nach Rudolf Steiner zu benennen.

1983 wurde in der Sandkuhle 2 der erste Waldorf-Kindergarten eingerichtet. Die große Einweihungsfeier mit Festveranstaltung in der Aula der Kaiser-Karl-Schule fand am Mittwoch, dem 3. November 1983, statt. 

Kurze Zeit später erfolgte die Umbenennung in „Verein zur Förderung der Waldorf-Pädagogik in Itzehoe“.

In den nächsten vier Jahren überschlugen sich die Ereignisse. 

Während einigen Eltern die Konstellation aus Waldorfkindergarten und Fahrdienst für den Anfang durchaus ausreichte, drängten andere auf eine baldige Gründung einer eigenen Waldorfschule, was ein erhebliches finanzielles Risiko und natürlich einen wesentlich größeren administrativen Aufwand bedeutete. 

Man hatte kein Grundstück und man hatte kein Geld. So rückten Menschen in den Vordergrund, die sich darauf verstanden, aus dem Nichts Werte zu schaffen und solche, die über Beziehungen zu einflussreichen Menschen und Ämtern verfügten. Nico Hansen und wahrscheinlich noch einige andere Vereinsmitglieder verfügten über ein weit gespanntes Netzwerk, aus dem heraus sich ein Kuratorium mit Honoratioren aus Politik, Kultur und Wirtschaft bildete.

Hans-Peter Wiencke, sehr wahrscheinlich ebenfalls zusammen mit einigen anderen Mitgliedern, konzentrierte sich auf ein Grundstück mit oder ohne Gebäude für die Schule. Die Zeichen standen gut.

Viel Zeit und Liebe investierten der Verein und seine Mitglieder in Pläne für ein Grundstück in der Nähe des ehemaligen Landgerichts. Es wurde ein Waldorf-Architekturbüro aus dem süddeutschen Raum vom Verein beauftragt. Die Gründe, woran diese Pläne scheiterten, waren vielfältig und bieten heute allenfalls Raum für Spekulationen.

Ende 1986 verhandelte die Stadt mit dem Verein einen Pachtvertrag über das Gelände am Kählerhof. Ursprünglich waren hier Tennisplätze geplant. Für die Nutzung als Schulgelände musste der Bebauungsplan geändert werden. Erst am 2. Juli 1987 erhielt die Schule die Erlaubnis, Pavillons für den Schulbetrieb aufzustellen. In den sechs Wochen bis zum ersten Schultag, dem 12. August 1987, gaben Eltern und diverse ortsansässige Firmen alles, um das Fundament zu legen, die Pavillons aufzustellen, zu verkleiden, von innen auszubauen und den heutigen „Kleinen Saal“ als Schul-Aula zu bauen. Sechs Wochen … unvorstellbar. Die Organisation der ABM-Kräfte, die gleichzeitig am Kählerhof und an der Temmingscheune tätig waren – unter ihnen auch zahlreiche Fachkräfte -, haben wir Herrn Wiencke zu verdanken, so betont er.

Zur Finanzierung der ersten Bauten hatte er zusammen mit anderen Gründungsmitgliedern eine persönliche Bürgschaft geleistet.

Mit den Pavillons und dem „Kleinen Saal“ war es aber nicht getan. Die ersten vier Jahrgänge, das Lehrerzimmer und das Schulbüro waren dort gut untergebracht. Aber schon im nächsten Schuljahr wurden weitere Räume benötigt.

Nachdem mehrere Anfragen bei namhaften Architekturbüros zur Übernahme dieser Bauaufgabe von diesen negativ beschieden wurden, erstellte das Büro Wörner und Partner (Frankfurt / Hamburg) einen Entwurf, der wahrscheinlich aufgrund von Auftragsfülle des Büros u.a. nicht zur Ausführung kam.

Nun sollte Wiencke diese Aufgabe als Architekt übernehmen. Er forderte von den Lehrkräften der ersten Stunde Raumpläne. „Was braucht Ihr? Aber da kam nichts.“ Hans-Peter Wiencke rauft sich noch heute die Haare. Seine eigenen Gedanken und einzelne Notizen aus den Gesprächen mit den Lehrkräften hatte er mit einem Bleistift auf hauchdünnes Seidenpapier geschrieben und diese stets mitgeführt.

Die Zeit schritt gnadenlos voran, ohne dass auch nur ein Plan für einen weiteren Schulbau in Sicht war. Wohin sollten die Kinder im nächsten Schuljahr? Hatten Wiencke, der Vorstand und das Kollegium völlig unterschiedliche Vorstellungen von dem, was als Nächstes geschaffen werden sollte? Wollten die einen vielleicht nur eine weitere Interimslösung, während Wiencke das große Ganze im Blick hatte? Die Situation war mehr als angespannt und es war nur eine Frage der Zeit, wann es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen Wiencke und dem Vorstand kommen sollte. Es fehlte nur ein kleiner Funke, und diesen lieferte bald ein Vorstandsmitglied, das sich anmaßte, in einer Schulelternversammlung von Herrn Wienckes Unfähigkeit zu sprechen. Ein Wort gab das andere. Wiencke, der über viel Erfahrung mit kommunalem Schulbau verfügte, war angesichts der Ignoranz seiner Kompetenz fassungslos und sah keine Möglichkeit mehr, sich weiter in dieser Gemeinschaft einzubringen. Er, der zehn Jahr zuvor mit Nico Hansen im Amrumer Ferienhaus den Entschluss zur Gründung einer Waldorfschule gefasst hatte, legte seine Arbeit für die Schule nieder und zog sich zurück.

Der Verein errichtete kurzerhand einen Anbau für vier weitere Klassenzimmer am Pavillon. Heute sind dies die Räume der Schulküche, der Mensa und des weitläufigen Kunstbereichs. Die Pläne und die Bauleitung lagen hierfür in den Händen eines anderen Vorstandsmitglieds.

Wiencke verklagte die Schule auf Zahlung eines Architektenhonorars. Die zum Beweis seiner Tätigkeit dem Gericht vorgelegten Aufzeichnungen wurden nicht anerkannt. Aus unerfindlichen Gründen wurde auch ein Architekten-Vertrag für ein großes Verwaltungsgebäude in Brunsbüttel zurückgezogen. Wiencke vermutet heute noch einen Zusammenhang mit dem Streit zwischen ihm und der Schule. Nun stand Wiencke emotional und finanziell vor einem Scherbenhaufen.

Am Rande unserer Kaffeetafel wurde ich noch einiger anderer Vorkommnisse an unserer Schule gewahr, die durchaus das Potential hatten, das gesamte Unternehmen gleich in den ersten Jahren zum Scheitern zu bringen. Aber ich will es hier und heute bei der Würdigung von Hans-Peter Wiencke belassen und darauf hinweisen, wie komplex die Umstände in einer rein basisdemokratischen Organisation waren und sind.

Immer wieder stellen wir die Schuldfrage. Ein durch und durch menschliches Prinzip: Ich habe eine bestimmte Vorstellung von etwas, das Ergebnis entspricht nicht meiner Vorstellung, und dafür mache ich jemand anderes verantwortlich.

Die menschlichen Wesenszüge werden nicht durch die Einigung auf ein gemeinsames Ziel ausgeblendet, insbesondere dann nicht, wenn die Zielvorstellungen variieren. Vielmehr sollte sich jeder die Tatsache vor Augen führen, dass wir, abgesehen von den vielfältigen Talenten, die jeder mitbringt, geistig und sozial unterschiedlich geprägt sind, ja sogar sehr unterschiedliche Wahrnehmungen haben. Die Komplexität gewinnt in spirituell geprägten Organisationen eine weitere Dimension, denn sie verleitet immer wieder Menschen dazu, die Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen. Während aber die einen noch auf der Suche nach der absoluten Wahrheit sind, andere diese für sich in Anspruch nehmen und sie zu lehren trachten, sind wieder andere schon längst dabei, eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Der Moment, an dem sich einzelne Gruppen unverstanden fühlen, sich absondern und mittels charismatischer Persönlichkeiten aus ihrer Mitte eine Polarisation bewirken, ist absehbar. Dagegen hilft nur die gegenseitige Wertschätzung und Transparenz in allen Gruppen und das fortwährende achtsame, persönliche Gespräch.

Vielen Dank, Herr Wiencke, für alles, was Sie für unsere Schule getan haben. Den Nachmittag mit Ihnen halte ich in guter Erinnerung.

Jürgen Beckmerhagen