Distanz-Unterricht – eine Mammutaufgabe

In meinem „ersten Leben“ war ich Informatiker und ständig damit beschäftigt, bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ein von mir konzipiertes System einzuführen. Der Einführung ging eine umfassende Bedarfsanalyse und oftmals eine recht individuelle Konfiguration oder gar Programmierung einzelner Bausteine voran. Monate später wurde installiert und die Daten langsam von dem alten in das neue System migriert. Es schlossen sich Schulungen und meist ein zeitlich befristeter Parallelbetrieb an. Das dauerte und die Arbeiten standen unter sehr kritischer Beobachtung.

Wenn ich heute in den Medien lese, dass sich Experten und Vertreter diverser Interessengruppen kritisch, wenn nicht gar abfällig über die Qualität der im Distanzunterricht eingesetzten Technik und der Lehrmaterialien äußern, kann ich nur mit dem Kopf schütteln.

Wir zählen in Deutschland rund 8,3 Millionen Schüler:innen und rund 685.000 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen. In Schleswig-Holstein allein kommen auf 294.000 Schüler:innen rund 23.600 Lehrkräfte. Haben Sie schon mal ca. 9 Millionen Anwender innerhalb von neun oder zehn Monaten vom „analogen“ in den vollständig „digitalen“ Betrieb überführt?

Während ich damals den Kunden die Hardware, das Betriebssystem und die Datenleitungen weitestgehend vorgeben konnte, nutzen die 8,3 Millionen Schüler:innen und 685.000 Lehrkräfte durchweg Geräte unterschiedlicher Bauform (Smartphone, Tablet, Laptop, Desktop) und mit Betriebssystemen unterschiedlicher Hersteller (Microsoft, Google, Apple) und unterschiedlichster Versionen – von Windows 7 bis MacOS Big Sur. Die Haushalte sind, wenn überhaupt, sehr unterschiedlich an das Internet angebunden. Wer, wie ich, über eine Glasfaserleitung verfügt und sein Heimnetz optimal ausgestattet hat, kann sich glücklich schätzen und ist dann auch in der Lage, mit zwei, drei Geschwistern und den Eltern parallel Video-Life-Chats zu führen. Soweit die Technik.

Nun müssen wir aber auch akzeptieren, dass sowohl die Lehrkräfte als auch die Lernenden in ihren privaten vier Wänden sitzen. In meinem Haus habe ich ein voll ausgestattetes Büro. Seit dieser Woche arbeitet auch meine Frau von zuhause und belegt den Esstisch im Wohnzimmer. Zum Glück ist meine Tochter im Abiturkurs und fährt tapfer nach Neumünster, Kaltenkirchen oder Itzehoe. Ansonsten könnte es mit den Arbeitsplätzen etwas eng werden. Aber ich zähle mich auch zu den Privilegierten. Ein eigenes Büro daheim – wer hat das schon? Andere sitzen am Küchentisch, im Schlafzimmer oder idealerweise am Schreibtisch im Kinderzimmer.

Im Klassenzimmer entsteht zwischen Lehrkraft und Lernenden eine Resonanz: ich sage etwas und mein Gegenüber antwortet mir mit eigenen Worten. Lehrer:innen bringen ihre Klassen zum Schwingen – und umgekehrt. So sollte es zumindest sein. Davon, wie wichtig diese Resonanz ist und wie sehr sie beide Seiten glücklich macht, kann der berichten, der sie u.a. in seiner Schulzeit erleben durfte. In diesen Momenten persönlicher Begegnung wachsen wir aneinander. Diese Momente machen Bildung erst möglich.

Das Wort „Lern-Managementsystem“ (LMS) will mir in diesem Zusammenhang schwer über die Lippen gehen. Die Lehrkraft managed, verwaltet nicht das Lernen und auch nicht den Schüler und die Schülerin. Wir können über ein LMS Arbeitsmaterial austauschen und Haus-Aufgaben verwalten. Mit etwas Geschick kann eine Lehrkraft ein Arbeitsblatt in ein multimediales und interaktives Werkstück übertragen. Mehr auch nicht. Die Lehrkraft sendet und der Lernende empfängt. Da schwingt rein gar nichts.

Dennoch – an einem Tag wie gestern nutzten 253 Schüler:innen und Eltern unserer Schule die Edupage-Plattform, um Arbeitsmaterial auszutauschen, das sind immerhin über 73 % der Schüler:innen in den Klassen 1 bis 12.

Unsere Video-Life-Chat-Plattform wurde gestern von 15 Lehrkräften für 23 Meetings mit jeweils durchschnittlich 25 Schüler:innen und im Schnitt 98 Minuten genutzt. Die Mindestdauer einer so erteilten Unterrichtseinheit lag bei 39 Minuten, die Höchstdauer knapp über 5 Zeitstunden. Auf dem Stundenplan standen neben dem Hauptunterricht der Mittelstufe, Fremdsprachen, Geographie, Chemie, Physik, Musik, Handwerken und Kunst. Heute Vormittag wurde sogar Eurythmie auf Distanz unterrichtet. Selbst das Theaterstück der 12. Klasse wird per Video-Life-Chat geprobt und soll diesmal als Hörspiel aufgezeichnet werden.

Wenn wir nur schreiben, was alles nicht funktioniert, und dafür einzelne Schuldige suchen, nehmen wir uns die Möglichkeit, die Probleme voll umfänglich zu verstehen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Ein einzelner Lehrer, ein einzelner Geschäftsführer und auch eine einzelne Bildungsministerin kann all die Probleme, denen wir im Schulalltag begegnen, nicht alleine lösen. Es braucht die Gemeinschaft. Es braucht uns. So gesehen freue ich mich über meine Kolleg:innen, die sich Tag für Tag den technischen, didaktischen und pädagogischen Herausforderungen des Distanzunterrichts stellen. Ich freue mich über die Eltern, die Lösungen für die vielen kleinen Probleme suchen und finden. Und ich freue mich besonders über die Schüler:innen, die ihren Lehrer:innen in diesen Tagen und Wochen helfen, den Unterricht so gut wie eben möglich zu gestalten.

Jürgen Beckmerhagen