Dornröschen-der märchenhaft, reale Eurythmieabschluss der 12. Klasse

In der letzten Woche entführte uns die 12. Klasse im Rahmen des Eurythmie-Abschlusses in die märchenhafte Welt von „Dornröschen“. Gleich stellte sich mir die Frage, wo sich unsere modernen und -im Falle meines Sohnes -kräftig pubertierenden Kinder bei Dornröschen wiederfinden sollen. Was kann ein Märchen, das seine ältesten Wurzeln im 14. Jahrhundert hat und vor über 200 Jahren von den Gebrüdern Grimm erstmals in deutscher Sprache gedruckt wurde, Eltern und Kindern heute noch sagen? Frau Oestereich führte uns in die symbolträchtige Handlung ein, wodurch das Märchen für uns Eltern und für unsere Kinder neue Dimensionen erlangte

Ursprünglich waren die Märchen nicht für Kinder gedacht. Früher erzählten sich die Erwachsenen am Abend Märchen, erst später waren sie auch für Kinder. „Dornröschen“ beschreibt die Entwicklung der Menschheit, ist ein Schicksalsmärchen. Vor Zeiten gab es einen König und eine Königin, wohl wahr, denn der König war ein Können der, mit Vollmacht Gegebener und die Königin dazu die Seele. Der Mensch war damals im Zustand der Hellsichtigkeit, der Hellfühligkeit, der Natursichtigkeit, dem heutigen Gegenstandsbewusstsein völlig entgegen. Doch dieser Mensch in diesem mythologischen Zeitalter sehnt sich nach einem Bewusstseinswandel. Sein Instinkt kündigt ihm an, dass eine neue Art der Wahrnehmung kommen wird.

Im Märchen ist es das Königspaar, das sich verzweifelt eine Tochter wünscht. Der Frosch, der die Geburt der Tochter ankündigt, ist das Bild für den Instinkt, und die Geburt der Tochter bedeutet die neue Art der Wahrnehmung. Noch wussten sich alle Menschen geborgen und getragen vom Kosmos. Sie konnten sich von den12 Kräften des Tierkreises getragen und genährt fühlen. Der König hatte 12 goldene Teller. Im Märchenheißt es aber, er hatte 13 weise Frauen in seinem Reich. Wer war nun diese 13.Kraft in seinem Reich? Neben den 12 Tierkreisen kündigt sich die neue, die 13. kosmische Kraft an. Schon in der germanischen Mythologie gab es die 12 Asen und der 13. Ase war Loki; die Lokikraft – ein neues Bewusstsein will kommen. Der Mensch löste sich aus der jenseits erlebten Innenwelt und wandte sich der äußeren Sinneswelt wieder zu. Schon in der Schöpfungsgeschichte inspirierte Luzifer als gefallener Engel zur Selbständigkeit, zur Gottdienlichkeit und vermittelte auch den Unterschied zwischen Gut und Böse. Es erwacht also mit der 13. Kraft ein „Ich“. Aber für diese Kraft hat man kein Fassungsvermögen, kein Wissen, keine Weisheit, der König hat keinen goldenen Teller für sie. So erscheint die 13. Weise erst einmal als eine böse Fee, was sie aber nicht ist. Sie ist vielmehr eine Vermittlerin für ein neues Bewusstsein. Im Märchen kommt es zum Fluch der 13. Fee, der bewirken soll, dass sich die Königstochter an einer Spindel stechen und an den Folgen sterben soll.

Die nachfolgende Milderung bewirkt, dass Dornröschen nicht sterben, sondern 100 Jahre schlafen wird. Spinnen und Denken sind urverwandt. Noch heute sagen wir: „Ich habe den Faden verloren“, „Der/die spinnt ja wohl!“ oder jemand„…dreht am Rad“; unmöglich Erscheinendes wird als “Hirngespinst” bezeichnet. Aber Denken soll Seelentod nach sich ziehen. Auch wenn der König im Märchen es verhindern möchte, indem er alle Spindeln in seinem Reich vernichten lässt, so ist ein dauerhaftes Unterbin-den des Denkens unmöglich, wenn der Mensch heranreift. Aus der Kindheit schreitet der Mensch voran zur Reife, das passiert bei jedem jungen Menschen. Das Kind entwickelt sich, und es kommt zur Reifung seiner Persönlichkeit.

. Als die Königstochter 15 Jahre alt ist, sind König und Königin abwesend. Väterlich Geistiges und mütterlich Seelisches wirken nicht mehr. Die junge Persönlichkeit ist auf sich selbst gestellt. Das Haus des Leibes, in der Kindheit noch weiträumig und groß wie ein Schloss, wird nun   wissbegierig erforscht. Dadurch wird es auch enger, man erkennt seine Begrenztheit. Der Turm im Märchenschloss ist jedoch nicht nur Bild der Einengung, sondern auch der Selbstständigkeit, der in sich selbst und fest gegründeten Kraft. Im Turm des Leibes steigt die Königstochter hinauf, ins „Oberstübchen“. Die Königstochter entdeckt die alte Frau mit der Spindel und greift selber zur Spindel –bewusstes Eigendenken beginnt. Doch nun greift der Fluch der 13. Kraft, der Lokikraft, des egoistischen Denkens. Es geht etwas zu Ende. Wach werden für die irdische, gegenständliche Welt heißt aber auch Einschlafen in der gestrigen, jenseitigen Welt. Für den15-jährigen Menschen bedeutet dies einen gesteigerten Selbstbezug. „Nur was ich denke und erfasse ist Maßstab“, „Nur was ich als Weltbild sehe, leuchtet mir ein.“ Diese Persönlichkeitsentwicklung zu sich selber macht die Jugendlichen aber auch einsamer. Im Märchen wuchert um den Turm eine undurchlässige Dornenhecke. Nichts kommt mehr zum jungen Menschen durch. Vom „Oberstübchen“ geht die Verzauberung aus. Doch wenn die Zeit reif ist, kommt der Erwecker. Im Märchen kommt er im Zeichen der Rose. Die Rose ist der Ausdruck für die ausgewogene Mitte. Der erlösende Prinz im Märchen ist das Wahrbild des höheren, durchchristeten „Ichs“. Mit dem noch heidnischen Wahrbild der Jungfrau, die auf den Erwecker wartet, beginnt das Märchen. Mit dem christlichen Wahrbild des Bräutigams, der im Zeichen der Rose kommt, schließt das Märchen.

Dornröschen ist ein Schicksalsmärchen.

Mein persönliches Fazit lautet: Die grundlegenden Herausforderungen, denen sich Eltern und ihre heranwachsenden Töchter und Söhne gegenüber sehen, sind über den Zeitgeist erhaben. Die Schüler der 12. Klasse haben es dank ihrer Leidenschaft und ihres Ausdrucks wirklich geschafft uns auf diese schicksalhafte Entwicklungsreise mitzunehmen. Vielen Dank für die märchenhaft schönen Aufführungen!

Kerstin Babarski, Mutter in der 5. und9. Klasse, für den Öffentlichkeitskreis