Frau Dr. Treß und anthroposophische Medizin

Der Öffentlichkeitskreis tagt an einem Septemberabend. Erzieher, Lehrer, Väter, Mütter aus Kindergarten und Schule besprechen, was in den nächsten sieben, acht Wochen bis zur nächsten Sitzung erledigt werden muss. Plakate, Flyer, Fotos, Presse, Info-Abend für interessierte Eltern. Zum Schluss fällt einem aus der Runde ein, dass das Thema für den nächsten Vortrag von Frau Dr. Treß noch nicht feststeht. Betretene Stille. An alles hatte man gedacht, nur nicht daran. Dabei ist der Vortrag von Frau Dr. Treß im Zuge der Veranstaltungen für künftige Schuleltern seit Jahren ein feststehender Höhepunkt.

Frau Dr. Treß verbindet mit Charme und Witz auf einzigartige Weise die Lehren Rudolf Steiners mit moderner Medizin. Sie ist ein Aushängeschild der norddeutschen Waldorfbewegung. Sie muss man erlebt haben. Dann schwinden sämtliche Vorurteile einer weltfremden, esoterischen Bewegung.

Als endlich eine Mutter den Begriff „Impfen“ in den Raum wirft, sind alle im Öffentlichkeitskreis erleichtert. „Ja, Impfen. Darüber soll Frau Dr. Treß sprechen.“ Vor meinen Augen sehe ich das Plakat, das Frau Dr. Treß’ Vortrag ankündigt: „Impfen“. „Das ist mir zu wenig“, wende ich ein. „Das machst Du schon, Jürgen“, höre ich als Antwort, während alle ihre Sachen packen und nach Hause gehen.

Sofort schießt mir das Bild von meiner Frau durch den Kopf, wie sie vor wenigen Jahren von Windpocken heimgesucht übelst krank im Bett lag. Sie musste sich bei unserer Tochter angesteckt haben, die selber kaum Symptome zeigte. Ich denke an die Arzthelferin, die sie auf Anweisung ihrer Chefin und auf Wunsch meiner Frau homöopathisch behandelte. Das Fläschchen mit der hochverdünnten Lösung siebenmal auf die Fensterbank klopfte und es dann meiner Frau mit den Worten verabreichte, „Ich weiß nicht warum ich das tue, aber es hilft Ihnen offensichtlich.“ Ja, der Homöopathie vertrauen wir seit Jahren und nicht erst, seit wir bei Waldorf sind. Aber genauso vertrauen wir auch der Schulmedizin, der asiatischen Medizin mit Akupunktur, der Osteopathie und sogar der Hypnose.

Ich denke an meine Zeit in der Kinder- und Jugendonkologie vor 25 Jahren. An die Kinder und Jugendlichen, die die Chemo und Bestrahlung über sich ergehen lassen mussten. Und an die Lebensfreude, die sie mir trotz ihrer scheinbar aussichtslosen Lage geschenkt haben.

Dabei denke ich aber auch an die zahllosen Scharlatane, die von dem Leid der Familien offensichtlich angelockt werden, wie die Motten vom Licht. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das wissen sie. Und sie versprechen alles. Weist man sie ab, obwohl das eigene Kind im Sterben liegt, ist es, als würde man den letzten dünnen Faden, an dem das Leben hängt, endgültig zerschneiden.

Ich spreche also mit Frau Dr. Treß und schlage ihr vor, sie solle einen großen Bogen spannen, von der Schulmedizin über Alternativ-Medizin – was immer auch unter diesen Begriff fällt – bis hin zur Anthroposophischen Medizin. Sie willigt ein.

In den Tagen bis zu ihrem Vortrag am 28. Oktober mache ich mich noch schnell schlau über den Gesetzentwurf und über die kritischen Äußerungen des Deutschen Ethikrates zur Masernimpfpflicht. Während einige Medien den Eindruck vermitteln, das Gesetz sei in trockenen Tüchern, wundere ich mich über die Gemütsruhe des hiesigen Gesundheitsamtes. Dort weiß man noch gar nicht, ob das Gesetz beschlossen wird und wie es umgesetzt werden soll. Näheres würde ich schon zu gegebener Zeit erfahren. Gegebene Zeit … ab März 2020 – so der veröffentlichte (Wunsch-)Plan – soll das Gesetz angewandt werden. In fünf Monaten also. Wie soll ich da entspannt bleiben?

Montagabend. Der Saal ist wider Erwarten nur zur Hälfte gefüllt. Eine strahlende Barbara Treß tritt vor’s Publikum und reklamiert zuerst die düstere Beleuchtung in unserem kleinen Saal. Auch die letzten Lichter werden angemacht. Es bringt nicht viel. Frau Dr. Treß zeigt ihr strahlendes Lächeln, und augenblicklich wird es hell im Saal.

Sie will zuerst ein paar Begriffe mit uns klären. Was ist eigentlich „Alternativ-Medizin“? Begriffe fliegen durch den Raum. Und was ist „Anthroposophische Medizin“? Stille – niemand traut sich, eine womöglich falsche Antwort zu geben. Frau Dr. Treß macht uns auf eine kleine Überraschung gefasst, als sie ein dünnes Heft mit vielen Einlegeblättern in die Luft hält und es als „meine Bibel“ bezeichnet. Es ist die Schrift „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“, die Rudolf Steiner angeblich noch auf seinem Sterbebett verfasst hat.

Frau Dr. Treß zitiert den zweiten und dritten Absatz dieser Schrift: „Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt. Und wir haben die Meinung, daß das von uns Gegebene nur derjenige in der ärztlichen Kunst verwenden soll, der im Sinne dieser Prinzipien vollgültig Arzt sein kann.

Allein wir fügen zu dem, was man mit den heute anerkannten wissenschaftlichen Methoden über den Menschen wissen kann, noch weitere Erkenntnisse hinzu, die durch andere Methoden gefunden werden, und sehen uns daher gezwungen, aus dieser erweiterten Welt- und Menschenerkenntnis auch für eine Erweiterung der ärztlichen Kunst zu arbeiten.“ GA027

Damit hatte im Saal wahrscheinlich niemand gerechnet und wenn doch, so gebe ich gerne zu, dass mich diese Worte Steiners angenehm überrascht hatten. Ich hatte eine Abrechnung mit der Schulmedizin erwartet. Stattdessen bildet sie, lt. Steiner, die Grundlage der Anthroposophischen Medizin. Anthroposophie fügt hinzu. Sie ist keine Alternative zur Schulmedizin.

So macht es Barbara Treß sichtlich Spaß, ihr geballtes naturwissenschaftliches und medizinisches Wissen über die erstaunten Zuhörer auszugießen. Die Gesetze der Physik und Chemie gelten in der Anthroposophie genauso, wie in der Schulmedizin.

Nun zündet sie die nächste Stufe. „Was ist eigentlich ‚Gesundheit‘“, will sie wissen. Wieder – betretene Stille. Sie zitiert den ersten Satz der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ („Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.”)

Auf die Relevanz geistigen und sozialen Wohlbefindens weist Barbara Treß in den folgenden Minuten immer wieder hin. Sie schaut auf die Eltern in der letzten Reihe. Der Vater hält einen Säugling im Arm. „Sie wollen doch auch, dass Ihr Kind später sagt: ‚Meine Eltern waren einfach klasse. Besser hätte es mir nicht ergehen können.’“ Und dabei geht es um wesentlich mehr, als nur um das Impfen oder darum, ob ein Bruch geschient und womöglich noch mit einer Eisenplatte fixiert wird. Mindestens ebenso wichtig ist das geistige und soziale Wohlbefinden unserer Kinder.

Und damit zieht Frau Dr. Treß uns, die wir an ihren Lippen kleben, den Stachel der schmerzhaften Impfung und mahnt uns zu mehr Gelassenheit und zu einer differenzierten Sichtweise.

„Hier in Deutschland wird kein Kind an Masern sterben. Hier nicht, aber in Gegenden, in denen es Menschen nicht so gut geht, wie uns hier.“ Das ist kein Plädoyer für Rundum-Impfungen – nein. Kinder sollen nach Möglichkeit alle Kinderkrankheiten durchmachen und so bis zum 5., 6. Lebensjahr die Abwehrstoffe bilden. „Oft sitzen die Kinder die Kinderkrankheit auf der linken Pobacke ab. Ich habe mich immer gefreut, wenn meine Kinder erhöhte Temperatur hatten und so ihre kleinen Körper fit gegen die Kinderkrankheiten gemacht haben.“

Dann hält sie einen Beitrag mit der Überschrift „Haben Kinderkrankheiten (noch) einen Sinn“ in die Höhe und ermahnt uns, diesen unbedingt zu lesen.

Erst wenn die Kinder die Abwehrstoffe nicht selber gebildet haben, sollte man sie impfen lassen. Aber niemals sollte man bei ausreichend vorhandenen Antikörpern zusätzlich impfen, was bei den vielen Kombinationsimpfstoffen fast unmöglich ist. So gibt es beispielsweise in Deutschland keinen Mono-Impfstoff gegen Keuchhusten (Pertussis), sondern ausschließlich Kombi-Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten.

Wenn man sich nicht sicher ist, ob der Körper genügend Antikörper gegen einen bestimmten Erreger hat, empfiehlt Frau Dr. Treß die Titer-Bestimmung. Dabei wird dem Patienten etwas Blut abgenommen, das anschließend auf die Konzentration der Antikörper hin untersucht wird. Die Kosten hierfür muss zwar i.d.R. der Patient selber zahlen, aber sie stehen in keinem Verhältnis zu den möglichen Folgen einer „Überimpfung“.

Indem Frau Dr. Treß immer und immer wieder auf eine differenzierte Betrachtung der Impfproblematik pocht und vor Panikmache warnt, wird sie auch zum Schluss ihres Vortrags nicht müde, uns an die geistigen und sozialen Aspekte der Gesundheit zu erinnern. Dass unsere Kinder in einem geistig und sozial gesunden Umfeld aufwachsen, ist ihr offensichtlich viel wichtiger als die Frage, ob eine einzelne Impfung sinnvoll ist oder nicht. Das Bilden von Vertrauen, das Eingehen von Beziehungen muss man analog üben – auch im digitalen Zeitalter.

Mit diesem Seitenhieb auf das hysterische digitale Zeitalter beendet sie ihren Vortrag, nimmt einen bunten Strauß Blumen in Empfang und fragt, ob ich noch etwas sagen möchte. Nein – es gibt nichts zu ergänzen, sage ich, obwohl sie auf meine zahlreichen Fragen zur Alternativ-Medizin keine Antworten lieferte. Diese Fragen spare ich mir für ihren nächsten Besuch auf. Für heute Abend habe ich genug Neues gelernt – besonders über Rudolf Steiner und seine Wertschätzung der Schulmedizin. Gelassenheit ist angesagt.

Jürgen Beckmerhagen.