Kalaf und Turandot

Chinesische Lampions im Zuschauerraum sind die Vorboten einer märchenhaften, fernen Welt aus Tausendundeine Nacht. Ich folge der Einladung der 12. Klasse zu ihrem Eurythmieabschluss, nehme Platz, hole Luft, lasse den Tag hinter mir und tauche in den Abend ein. Als der rote Vorhang endlich den Blick auf ein bezauberndes Bühnenbild mit einem wunderschönen chinesischen Drachen freigibt und eine in Seide gekleidete Hofdame einlädt, ihr an den Hof des Fürsten zu folgen, vergesse ich alles um mich herum.

Eine Tochter des Herrschers heißt Turandot, und um sie soll es heute Abend gehen. Sie ist traumhaft schön und Objekt der Begierde unzähliger Prinzen aus den verschiedenen chinesischen Stämmen. Turandot soll verheiratet werden, doch sie ringt ihrem Vater das Zugeständnis ab, dass sie den Männern, die um ihre Hand anhalten, drei Rätsel aufgeben darf. Beantwortet der Jüngling die Fragen nicht korrekt, so soll er seinen Heiratsantrag mit dem Leben bezahlen. Andernfalls will sie ihn heiraten.

Gerade wird man noch Zeuge einer Hinrichtung und ist versucht, Turandot als blutrünstige, männermordende Prinzessin zu verurteilen, da schickt sich Kalaf an, um ihre Hand anzuhalten. Ausgerechnet Kalaf, dem die Herzen aller Frauen zufliegen. Seine Liebe zu Turandot lässt ihn alle Warnungen in den Wind schlagen. Zudem scheint ihm die wahre Liebe übernatürliche empathische Fähigkeiten zu verleihen, sodass er die drei vieldeutigen Fragen der Prinzessin zur Überraschung aller richtig mit „Sonne“, „Meer“ und „Jahr“ beantwortet. Nein, damit hatten weder Turandot noch der Zuschauer gerechnet.

Die Prinzessin windet sich. Ihr Vater drängt sie, ihr Versprechen einzuhalten. Kalaf liebt Turandot aber so sehr, dass er ihr einen Ausweg anbietet: „Wenn Du meinen Namen errätst, bist Du frei.“ Es kommt wie es seit jeher im Märchen kommen muss – Turandot erkennt in Kalaf die wahre Liebe. Die beiden werden eins.

Kaum zu glauben, dass diese persische Erzählung um 1200 n. Chr. entstand.

Wenn ich hier keine Worte über die Eurythmie verliere, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass die 12. Klasse unter Leitung ihrer Eurythmielehrerin, Frau Ückert, es verstand, mich ganz und gar in eine märchenhafte Welt zu entführen. Eurythmischer Tanz, glanzvolle Gewänder, reizvolle Haartrachten, das minimalistische Bühnenbild mit dem energiegeladenen Drachen, das stimmungsvolle Licht, die musikalische Begleitung und die Handlung bildeten von der ersten bis zur letzten Minute eine Einheit. Selbst als sich der Vorhang schloss, blieben die Zuschauer wie hypnotisiert sitzen und begriffen scheinbar erst langsam, dass alles nur ein Märchen war.

Jürgen Beckmerhagen