Kultur und was uns zusammenhält

Während ich dieser Tage in einer Nachricht an einen werten Kollegen meine Gedanken darüber aufschreibe, weshalb wir während der Pandemie alles uns Mögliche tun sollten, um die Gemeinschaft zu schützen, betritt eine Kollegin mein Büro. Neben dienstlichen Informationen tauschen wir kurz Persönliches aus. Ich: „Ich freue mich auf meinen Ruhestand.“ Sie: „Werden Sie denn unsere Schule gar nicht vermissen.“ Ich: „Man sollte aufhören, wenn es am schönsten ist.“ Sie: „Ja, ja. Das haben schon viele gesagt.“ Ich: „Harald Welzer meint auch ‚Aufhören sichert das Erreichte, weitermachen banalisiert es.‘“ (In „Nachruf auf mich selbst“) Sie: „Ich lese auch gerade ein gutes Buch: Remo Largo und ‚Das passende Leben‘“. Das Telefon klingelt.

Als ich Stunden später meine Sachen packe, finde ich den gelben Zettel mit dem Namen des Autors und des Buches. Ich stecke ihn in die Hosentasche.

Daheim befrage ich das Internet nach Remo Largo. Unter zahlreichen Suchergebnissen sticht sein Auftritt in der Schweizer Fernsehsendung „Sternstunden der Philosophie“ heraus. Ich liebe den Schweizer Zungenschlag, den Schweizer Käse und das Käsefondue, die Schweizer Berge und auch diese Fernsehsendung, die so viel tiefgründiger ist, als alles, was ich an vergleichbaren Sendungen im deutschen Fernsehen kenne. So begegne ich 57 Minuten lang einem überaus charmanten, intelligenten und mit viel Lebenserfahrung gesegneten Erziehungsforscher. Er erzählt viel über Grundbedürfnisse und über die Anpassungsfähigkeit des Menschen.

Mit Blick auf soziale Medien, die Unterhaltung und den Konsum stellt Largo fest, dass sehr vieles in unserer Gesellschaft Kompensationsverhalten ist. Daraufhin der Moderator: „Das klingt sehr kulturkritisch. Wollen Sie die Zeit zurückdrehen?“ Remo Largo: „Ich gebe lieber eine Antwort, was Kultur ursprünglich war.“

Dann beschreibt er die Kultur der letzten 200.000 Jahre als Kitt der Gesellschaft, also als das, was eine Lebensgemeinschaft zusammenhält. „Man hat zusammen gesungen. Man hat zusammen getanzt. Man hat in einer bestimmten Weise miteinander gegessen. Man hat Wertvorstellungen geschaffen, die man geteilt hat. Das hat die Lebensgemeinschaft zusammengebracht. Wenn man die Kultur heute anschaut, dann würde ich sagen: diese Funktion ist komplett verloren gegangen.“

Mit diesem Gedanken lädt sich in mir der Spannungsbogen zwischen Erkenntnis bzw. Wissenschaft und Vernunft, zwischen kollektiver und individueller Rationalität, zwischen Ich und Wir und nun auch zwischen Welzer und Largo weiter auf.

Straßenmusiker in der China-Town in San Francisco (2010)

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Na klar: was eine Waldorf-Gemeinschaft, die die jeweils individuelle Autonomie ihrer Kinder fördern will, über alle ideologischen und weltanschaulichen Grenzen hinweg zusammenhält, ist das Miteinander. Sind die Monatsfeiern, das Adventssingen, das Christ-Geburtsspiel, das Johannifest, Michaeli und der Drachen, die Elternabende, die Theater- und Eurythmieaufführungen, die Einschulungsfeiern, die Präsentation der Halbjahres- und Jahresarbeiten, der Haus- und Hofkreis, der Herbstmarkt, der Öffentlichkeitskreis, die Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen, die wöchentlichen Konferenzen, der Eltern-Lehrer-Schüler-Chor, die Orchester und und und. Das macht eine gesunde Waldorf-Gemeinschaft aus. All dieses kulturelle Treiben schafft Geborgenheit für Eltern, Lehrkräfte und natürlich für unsere Schülerinnen und Schüler – Geborgenheit als Nährboden für umfassende Bildung unserer Kinder.

Egal was der Einzelne von Globuli, Kackehörnchen, Impfen, Masken und was weiß ich nicht alles halten mag – darüber redet kaum noch einer, wenn wir endlich wieder Gemeinschaft kulturell leben können. Auf diese Zeit freue ich mich schon wie ein kleines Kind.

Bleiben Sie gesund. Achten Sie auf Ihre Liebsten und auf Ihre Nächsten.

Jürgen Beckmerhagen.

Bilder: Jürgen Beckmerhagen.