Schulabsentismus (Schulverweigerung) aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Vortrag von Dr. med. Andrea Lau im Rahmen des Treffens der Gemeinschaftsschulen zum Thema „Schulabsentismus“ am Mittwoch, dem 13. Februar 2019, in Itzehoe. Frau Dr. Lau ist leitende Ärztin der Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Klinikum Itzehoe – auch bekannt als „Störpiraten“.
In ihrem Lehrbuch aus dem Jahre 2016 geben Goodman und Scott an, dass etwa 5 % der Kinder kinder- und jugendpsychiatrisch vorgestellt werden, weil sie sich weigern, zur Schule zu gehen. Dies wird als Schulverweigerung, synonym auch als Schulabsentismus bezeichnet. Dahinter können sehr unterschiedliche Probleme stecken, sowohl von Seiten des Kindes bzw. Jugendlichen als auch der Familie oder der Schule.
Die Schulverweigerung hat drei Häufigkeitsgipfel: bei Einschulung, beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule und mit Beginn der Pubertät. Die Zahl der Schulverweigerer nimmt mit dem Alter zu, dies auch u.a. einfach deshalb, weil es schwieriger ist, ältere Kinder gegen ihren Willen in die Schule zu zwingen. Schulverweigerung kommt bei Jungen und Mädchen gleich häufig vor. Es gibt keine bestimmte sozio-ökonomische Gruppe, die hierfür besonders anfällig wäre. Schulverweigerung kann plötzlich beginnen oder sich allmählich entwickeln. Ein schleichender Beginn ist im jugendlichen Alter häufiger, zusammen mit einem zunehmenden Rückzug von bis dahin gern ausgeübten Aktivitäten mit Gleichaltrigen. Das Auftreten, bzw. Wiederauftreten von Schulverweigerung kommt besonders oft nach einer längeren Phase ohne Schulunterricht vor, sei es aufgrund von Ferien oder einer Krankheit.
Schulverweigerung kann Ausdruck sehr unterschiedlicher zu Grunde liegender familiärer Dynamiken und psychiatrischen Störungen sein. Psychiatrische Störungen machen sich normalerweise auch noch durch andere weitere Symptome als Schulverweigerung bemerkbar.
Neben emotionalen Störungen, die im Kinder- und Jugendalter ein übergeordneter Begriff für Ängste und Depressionen sind, finden sich somatoforme, körperliche Beschwerden und körperliche Erkrankungen, dissoziales Schule-schwänzen und das Phänomen von Kindern psychisch kranker Eltern.
Bezüglich der emotionalen Störungen, die im Zusammenhang mit Schulverweigerung stehen, unterscheidet man als Unterformen Schulphobie, Schulangst und Depressivität. Diese drei Störungsbilder lassen sich oft nicht klar voneinander trennen, oder es treten Symptome sowohl von Ängstlichkeit als auch von Depressivität auf.
Bei der Schulphobie handelt es sich um eine auf die Schule projizierte Trennungsangst von den Bezugspersonen. Dies findet sich eher bei jüngeren Schülern. Die Kinder haben Verlassenheitsängste und häufig ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind eng symbiotisch. Anamnestisch findet sich immer wieder auch einmal ein schwer krankes Elternteil oder eine intrafamiliäre Gewaltproblematik, so dass das Kind das Gefühl hat, zu Hause aufpassen zu müssen. Die zu Grunde liegende Trennungsangst bleibt den Kindern in der Regel unbewusst oder sie trauen sich nicht, dies zuzugeben. In diesem Zusammenhang treten häufig somatische Beschwerden, wie Übelkeit, Kopf- und Bauchschmerzen, Erbrechen und Appetitstörungen auf , vor allem beginnend kurz bevor das Kind sich auf den Schulweg macht oder in der Schule eintrifft. Treten diese Beschwerden am Wochenende oder in den Ferien nicht auf, ist dies ein wichtiger Hinweis.
Von der Schulphobie wird die Schulangst unterschieden, die eine auf den Lebensraum Schule gerichtete Angst ist. Die Kinder versuchen aus Angst vor Leistungsversagen aufgrund von tatsächlichen Lernschwächen, Begabungsmängeln, Teilleistungsstörungen oder befürchteten Insuffizienzgefühlen oder auch wegen körperlicher Gebrechen und Behinderungen, zum Beispiel entstellender Fehlbildungen, Krankheiten oder motorischer Ungeschicklichkeit, der Schule fern zu bleiben.
Depressive Störungen als Ursache von Schulabsentismus findet man schwerpunktmäßig eher bei Jugendlichen. Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren leiden zu 3 bis 10 % unter einer depressiven Störung. Neben den typischen Symptomen mit Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Grübeln, sowie körperlichen Symptomen, wie zum Beispiel Kopf- und Bauchschmerzen, als direkte Ursache nicht in die Schule gehen zu können, spielen die Symptome Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, Denkhemmung, psychomotorische Hemmung, Schlafstörungen, Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus eine bedeutende Rolle. Oft kommt es zu einem extremen Leistungsabfall in der Schule und zu einer Selbstisolation gegenüber der Familie und Freunden bei gravierendem sozialem Rückzug. Die Kinder verlassen kaum noch ihre Zimmer. Meist liegen sie auf dem Bett aufgrund ihrer Antriebslosigkeit. Lange Zeit haben diese Kinder versucht, die empfundenen Symptome und Defizite durch ein höheres Maß an Aktivität, Selbstdisziplin und kaum erfüllbarem Perfektionismus zu bekämpfen. Irgendwann gelingt ihnen dies nicht mehr, sodass sie zunehmend häufig den Weg in die Schule nicht schaffen.
Neben den emotionalen Störungen ist der Vollständigkeit halber das Schule-schwänzen zu nennen, bei dem die Kinder unlustbesetzte Anforderungen der Schule zugunsten von lustbetonten Verhaltensweisen in Form von Bummeln, Herumstreunen, Aufenthalt am ZOB, etc. vermeiden. Die Symptomatik tritt in der Regel im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens auf. Diagnostisch wissen Eltern von Kindern mit emotionalen Störungen in der Regel, dass ihre Kinder der Schule fernbleiben, und auch die Kinder selbst machen daraus keinen Hehl. Im Gegensatz dazu versuchen Schulschwänzer ihr Fernbleiben von der Schule zu vertuschen, und den Eltern ist oft nicht klar, dass ihr Kind nicht zur Schule geht.
Schulvermeidendes Verhalten aufgrund von Angst oder Depressivität lässt sich kinder- und jugendpsychiatrisch und psychotherapeutisch angehen. Primäre Intervention beim Schulschwänzen wäre eine Intervention der Jugendhilfe.
Auf zwei Aspekte schulvermeidenden Verhaltens möchte ich im Folgenden noch hinweisen. Das Erste ist die Problematik von Kindern psychisch kranker Eltern. In diesem Fall findet man immer wieder schulphobisches Verhalten mit Trennungsangst von der psychisch kranken Bezugsperson gepaart mit ineffektiver häuslicher Organisation, übermäßiger emotionaler Bindung an das Kind und der erzieherischen Schwäche, konsequent den Schulbesuch beim Kind durchzusetzen. Gerade Mütter mit einer Angststörung oder einer Depressivität fühlen sich oft wohler und sicherer, wenn sie das Kind den ganzen Tag um sich haben. Und gerade Eltern mit eigener psychiatrischer Problematik fällt es oft schwer, mit dem etablierten Hilfesystem, sei es das Jugendamt oder auch die Schule, zusammen zu arbeiten und sich externe Unterstützung zu holen. Es besteht ein großes Misstrauen und die Angst, dass ihnen das Kind weggenommen wird.
Wenn man über Schulangst spricht, berührt man unweigerlich auch den großen Formenkreis des Mobbings. Mobbing kann man definieren als „negative Handlung, denen ein oder mehrere Individuen wiederholte Male und über einen längeren Zeitraum von einem oder mehreren Individuen ausgesetzt sind“. In der Schule versteht man darunter ein gegen Schüler gerichtetes Drangsalieren, Gemeinsein, Ärgern, Angreifen oder Schikanieren. Dies kann physisch mit körperlichen Verletzungen einher gehen, verbal attackierend sein oder sich als Angreifen und Zerstören sozialer Beziehungen des Opfers darstellen. In einer 2007 von der Universität Koblenz / Landau durchgeführten Befragung von Schülern aller Klassenstufen äußerten fast 55 %, dass sie von direktem Mobbing betroffen seien. Knapp 20 % fühlten sich von Cybermobbing betroffen. Gefährdet sind vor allem Kinder und Jugendliche, die kleiner oder schwächer sind als der Durchschnitt, übergewichtig sind, ängstlich oder schüchtern imponieren, sozial nicht akzeptierte Äußerlichkeiten zeigen, sich selbst aggressiv verhalten oder aus einem Elternhaus mit überbehütendem Erziehungsstil stammen. Auch erhöht sich statistisch die Wahrscheinlichkeit, wenn man einer ethnischen Minderheit angehört.
Wenn uns in der Klinik Kinder und Jugendliche mit Schulabsentismus vorgestellt werden, finden sich gehäuft Kombinationen oben genannter Faktoren. Wichtig ist zu beachten, dass schulvermeidendes Verhalten rasch chronifiziert. Dies führt dazu, dass trotz knapper therapeutischer Ressourcen so zügig wie möglich eine geeignete Intervention, sei es therapeutischer oder pädagogischer Art, eingeleitet werden sollte. Ein Herausnehmen des Schülers aus der Schule allein, zum Beispiel durch gut gemeinte Krankschreibung, verschafft dem Kind, der Familie und vielleicht auch den Lehrern zunächst affektive Erleichterung, führt aber mittel- und längerfristig eher zu einer Chronifizierung und sollte gut überdacht sein, insbesondere wenn nicht zeitnahe weitere intensive Interventionen eingeleitet werden.
Aus der Multikausalität des Schulabsentismus ergibt sich darüber hinaus die Notwendigkeit einer intensiven Vernetzung der Zusammenarbeit aller Beteiligten, um ganzheitlich an das Problem herantreten zu können, damit die Schüler mittelfristig eine altersgerechte kognitive und emotional-soziale Entwicklung nehmen können.
Dr. med. Andrea Lau
Leitende Ärztin