Vortrag von Frau Dr. Treß

Populärwissenschaftler haben die bewundernswerte Begabung, dem Nicht-Wissenschaftler komplexe Sachverhalte allgemein verständlich und mit Hilfe spannender Anekdoten unterhaltsam zu vermitteln. Wer sich für sie und ihre Themen begeistert und der Sache mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund gehen möchte, ist allerdings meist nach den ersten Schritten ernüchtert. Anders verhält es sich bei Frau Dr. Treß, die am 5. November in unserem kleinen Saal mit über 100 Eltern, Schülern und Pädagogen der Frage „Was führt zur Entwicklung von Selbstbewusstsein und Motivation?“ nachging. Zwar ist sie offensichtlich auch ein Fan des Neurologen Prof. Dr. Gerald Hüther, dessen Thesen über das Motivationszentrum im Gehirn und über die Funktion von Botenstoffen wie Dopamin, Opioid und Oxytozin sie aus dem FF vorträgt, doch sind ihre Erzählungen aus der täglichen Praxis als Praktische Ärztin und die zugehörigen analytischen Betrachtungen weitaus interessanter. Schließlich kann jeder Zuhörer, der über ein geringes Maß an Reflexionsvermögen verfügt, an ihre Geschichten anknüpfen und ohne wissenschaftliche Kenntnisse allein aufgrund eigener Erfahrungen ihre Schlussfolgerungen bestätigen.

Frau Dr. Treß spannte den Bogen von der Geburt bis in hohe Alter. Mit dem Eintritt in diese Welt scheint jedes Kind zu sagen: „Komme was wolle, ich komme.“ Und dann?

Immer häufiger begegnen wir nicht nur beim Kinderarzt sondern auch im Alltag Kindern, die sich scheinbar selber nicht mehr wahrnehmen und die schon kleinsten Anstrengungen gerne aus dem Weg gehen.

Mir geht in diesem Zusammenhang Frau Dr. Treß‘ Beispiel von der Mutter nicht aus dem Sinn, die ihren Erziehungsstil als „Bedürfnis-orientiert“ bezeichnete. Hatte das krabbelnde Kleinkind das Bedürfnis, den Heizstrahler anzufassen, dann warnte die Mutter nicht ihr Kind oder rief es zurück, sondern verlangte von der Ärztin, dass sie doch den Heizstrahler woanders hinstellen möge. „Bedürfnis-orientiert …“

Wollen wir bindungsfähig sein und in einer sozialen Gemeinschaft bestehen, so müssen wir lernen, unsere Urinstinkte zu bremsen. Während das Baby bei Hunger, nassen Windeln oder einer störenden Falte in der Bettdecke gleich schreit, ist es für unsere Gesellschaft förderlich, wenn wir diesen Instinkt unterbinden und lernen, unser Potential anderweitig zu nutzen.

Wir trauen unseren Kindern offensichtlich nichts mehr zu. Sie werden von gestressten Müttern und Vätern überall hingefahren, anstatt das Fahrrad oder Busse und Bahnen zu nehmen, und wenn sie daheim einmal etwas mehr für die Schule tun müssen, beschweren sich die Eltern bei den Lehrern.

Wenn Kinder die Welt nicht aushalten können, dann werden sie „anstrengend“.

Dabei, so Frau Dr. Treß, sehnt sich jeder Mensch gleichzeitig nach Autonomie und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – zwei Wünsche, die sich auf den ersten Blick diametral gegenüberstehen. Einerseits geht es um die „Individualisierung des Modellleibs“ – so bezeichnete es Rudolf Steiner – und andererseits um die Verbindung mit dieser Welt.

Welches Verhältnis haben wir noch zu uns selbst und welche Bindungen wollen wir inhaltlich in dieser Welt entwickeln?

Kinder können ihr eigenes Potential nur entfalten, wenn wir sie lassen und ihnen etwas zutrauen. Kinder müssen ihre Grenzen mitunter schmerzvoll erfahren, um ihr Potential entwickeln zu können. Ein Kind, das gelernt hat, seine Potentiale zu nutzen, hat automatisch mehr Selbstvertrauen.

Eltern sollten außerdem wissen, dass sie bei ihren Kindern kein Vertrauen schaffen, indem sie sich von ihnen respektlos behandeln lassen. Respekt kommt vor Vertrauen. Mein Kind muss mich respektieren, damit es mir und ich ihm vertrauen kann.

Jürgen Beckmerhagen