Der Kählerhof

Mit zwei Jahren saß Antje (* 1958) bereits auf einem knallroten Ferguson-Traktor, den ihr Vater sicher über das Getreidefeld direkt vor dem stattlichen Kählerhof steuerte. Zur Rechten die Rüben und Kartoffelfelder, zur Linken das Getreide. Und dort, wo heute Ausgleichsflächen der Stadt Itzehoe zu einem Spaziergang einladen, weideten die Rinder.

Antje und ihre Schwester Wiebke (* 1960) hatten eine vergleichsweise unbeschwerte Kindheit und Jugend auf dem Kählerhof vor sich. Von den katastrophalen Wirren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wussten sie nichts. Es waren die Aufbau-Jahre, die Jahre des Wirtschaftswunders. Sie sollten die letzte Generation auf dem über 300 Jahre alten Kählerhof sein.

Als Antje 1958 das Licht der Welt erblickte, lebten ihre Großeltern bereits auf dem Altenteil am heutigen Kamper Weg, nur wenige Meter vom elterlichen Hof entfernt.

Opa Johannes Jacob Kähler (1893 – 1991) hatte als Soldat den Ersten Weltkrieg überlebt und 1922 seine Frau Frieda (1895 – 1974) geheiratet. Es waren die „Goldenen Zwanziger Jahre“. Hoffnungsvoll und voller Zuversicht übernahmen Johannes Jacob und Frieda den im 17. Jahrhundert gegründeten Kählerhof.

Zum Kählerhof gehörten 30 ha Acker- und Weideland – ein Zehntel von dem, was ein landwirtschaftlicher Betrieb im Westen heute haben sollte, und nur ein Hundertstel von dem, was die Höfe im Osten haben.

Zur Erntezeit halfen oft Frauen aus der Nachbarschaft auf dem Hof und auf den Äckern aus und verdienten sich ein paar Mark.

Zwei weitere Bauernhöfe standen in Sichtweite zum Kählerhof: der Krohnhof im Südwesten und der Schlüterhof im Nordosten.

Johannes Jacob und Frieda konnten nicht ahnen, dass die ersten 23 Jahre ihrer Ehe die härteste Prüfung ihrer jungen Liebe werden. Zusammen hatten sie vier Kinder. Hans Herbert starb sechs Monate nach seiner Geburt 1923 den Kindstod. Ein Jahr später erblickte Otto (1924 – 1944) das Licht der Welt. Sohn Hans starb 1926 nur zwei Wochen nach seiner Geburt – er verweigerte jegliche Nahrung. Heinz Johannes (1932 – 2017) war der Letztgeborene.

Ungeachtet der tragischen Verluste, baute Johannes Jacob eine angesehene Pferdezucht mit über 30 Holsteinern auf, die sich weit über die Grenzen Schleswig-Holsteins einen Namen machte und zur Haupteinnahmequelle des Kählerhofs wurde. Neben den Pferden hielt er ein paar Kühe, Schweine und Hühner.

Antje erinnert sich, dass man im Familienkreis nie viel über die Geschichte der Familie Kähler und des Kählerhofs gesprochen hatte. Haften blieb jedoch eine Geschichte aus der unseligen Nazi-Zeit, die vielleicht die Sprachlosigkeit erklärt: Opa Johannes Jacob war bereits zu alt und sein jüngerer Sohn Heinz Johannes zu jung, um als Soldaten in den Zweiten Weltkrieg ziehen zu müssen, doch Sohn Otto musste an die Front. Johannes Jacob war kein Nazi, betonte er immer wieder, aber ein Schwager aus einem Nachbardorf um so mehr. Mit ihm hatte er ständig Streit, woraufhin dieser dafür sorgte, dass Johannes Jacob seine Pferde aus der wertvollen Zucht ohne Entschädigung an das Militär abtreten musste. Als wäre der Verlust der Pferdezucht an die Nazi-Verbrecher nicht genug, ereilte ihn und seine Frau 1944 die schreckliche Nachricht vom Tod ihres erst 20 Jahre jungen Sohnes Otto. Kaum jemand mag sich das Leid vorstellen, das Johannes Jacob und seine Frau Frieda seit ihrer Hochzeit mit dem Verlust von drei Kindern und der Pferdezucht ertragen mussten.

Trotzdem ging es nach dem 2. Weltkrieg auf dem Kählerhof weiter. Johannes Jacob baute die Pferdezucht wieder auf. Selbst Springreiter Paul Schockemöhle gehörte in den nächsten Jahren zu seinen Kunden.

1955 heiratete Sohn Heinz Johannes seine Frau Heinke (1932 – 2016). Beide waren erst 23 Jahre alt. Ein Jahr später, 1956, zogen Johannes Jacob und seine Frau ins neu erbaute Altenteil am nahe gelegenen Kamper Weg.

Nach und nach stellte Heinz Johannes den Betrieb auf Milchwirtschaft um. Ein Pferd nach dem anderen verließ den Hof und machte Platz für eine neue Kuh. Einzig von Pferd „Käferchen“ konnte sich die Familie nicht trennen.

Ein Traktor wurde angeschafft. Wer Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre bereits einen Traktor besaß, zählte zu den fortschrittlichen Landwirten. Heinz Johannes gehörte zweifellos zu den fortschrittlichen Landwirten mit viel Elan. Er war Vollblut-Landwirt und sollte es bis zu seinem Lebensende bleiben. Die Willensstärke und den Mut für einen Neuanfang musste er von seinem Vater geerbt haben. Auf die tägliche Unterstützung durch seinen Vater Johannes Jacob konnte er bauen, auch wenn dieser bereits in dem neuen Altenteil lebte.

1958 wurde Tochter Antje geboren, zwei Jahre später Wiebke.

Heinz Johannes baute den Kählerhof um. Eigentlich war er immer am bauen, erinnert sich Antje. Dort wo heute der Eingang zum Kählerhof ist, entstand der Kuhstall mit Milchküche. Auf der gegenüber liegenden Seite errichtete Heinz Johannes einen Anbau für die Färsen. Auf dem Grundstück der heutigen Temmingscheune des Waldorf-Kindergartens errichtete er eine Garage, einen Maschinenstall und einen Hühnerstall.

Antje und Wiebke besuchten die Volksschule, wie die Lübscherkamp-Gesamtschule damals hieß. Sie war nur wenige Meter vom Elternhaus entfernt. Ein kleiner Trampelpfad führte von der Hofzufahrt zur Schule. Hier lernten sie nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen. Hier trafen sie auch ihre Freundinnen und Freunde, mit denen sie nachmittags und in den Ferien auf dem elterlichen Hof nach Herzenslust spielten. Besonders der Dachboden, der als Heu- und Futterlager diente, war eine traumhafte Spielwiese.

Auch wenn die Töchter nicht immer gerne auf dem Hof mithalfen, so gehörte es doch zu ihren täglichen Aufgaben, die Kühe von der Weide zu holen und in den Stall zu treiben. Jeden Tag. Bei Wind und Wetter.

Alle Kühe hatten einen Namen und sie wurden teilweise bis zu 16 Jahre alt. „Christine“ war die Lieblingskuh der ganzen Familie. 

Ein Zuchteber sorgte für weitere Einnahmen. Regelmäßig brachten Bauern aus dem Umland ihre Sauen zum Eber auf dem Kählerhof.

Wie es sich damals gehörte, hielt Familie Kähler neben ihren Rindern ein paar Sauen und Hühner zur Selbstversorgung. Zum Schlachten für den Eigenbedarf kam bis Ende der 60er Jahre der Schlachter auf den Hof. Die Kinder erinnern sich noch heute an den Anblick der geschlachteten Schweine und an das viele Blut. Sonntags kam bei Familie Kähler stets ein Braten auf den Tisch, aber auch während der Woche aß man gut. Mutter Heinke backte für ihr Leben gerne Kuchen, der jeden Nachmittag glückliche Abnehmer fand.

Die 70er Jahre waren schon eine verrückte Zeit. Die Nachkriegsgeneration war erwachsen und setzte eigene Kinder in die Welt. Der alten Geschichten von Oma und Opa, von Onkel und Tanten, sofern sie die Kriege überlebt hatten, war man überdrüssig. Alles, was an alte Zeiten erinnerte, hatte keinen Wert. Neues musste her. Die Kontinente auf der Erde waren alle entdeckt. Die höchsten Berge waren erklommen. Die neuen Ziele hießen Mond, Weltraum, Computer. Die Häuser und Straßen, die noch immer das Lied von der guten alten Zeit sangen, standen nur im Weg.

Die Menschen in Deutschland rissen ab und ließen verkommen, bauten neu. Oftmals scheinbar planlos. So lange, bis auch das letzte Gebäude, das noch von der Kaiserzeit und von Großgrundbesitzern zeugte, gewichen war.

Auch am Kählerhof kündigten sich Änderungen an. Oma Frieda starb 1974 nach 52 Ehejahren. Ende der 70er hatte die Stadt Itzehoe neue Pläne. Die Landwirtschaft entlang des südlichen Störufers sollte zum Wohngebiet Wellenkamp werden. Der Krohnhof, der Kählerhof und auch der Schlüterhof sollten weichen.

Bauer Krohn verkaufte als erster seinen Hof an die Stadt. Heinz Johannes Kähler wollte sich wehren, aber vom ehemaligen Krohnhof rückte die Wohnbebauung immer näher an den Kählerhof heran. Heinz Johannes und seiner Familie blieb keine andere Wahl als 1978 sein Land, seine Stallungen und sein Wohnhaus an die Stadt Itzehoe zu verkaufen. Im Gegenzug erhielt er einen Schweinehof in der nahe gelegenen Brokreihe.

Heinz Johannes verpachtete zunächst den Hof in der Brokreihe und pachtete im Gegenzug für weitere fünf Jahre seinen ursprünglich eigenen Hof von der Stadt Itzehoe. So konnte er den Kählerhof noch bis 1983 bewirtschaften.

1979 verließ Tochter Antje den Kählerhof. Sie war 21 und hatte zu der Zeit andere Pläne, als Landwirtin auf einem fremden Hof zu werden. Antje wollte auf’s Büro. Allerdings heiratete sie 1980 bereits einen Landwirt, bekam im gleichen Jahr ihre Tochter Ann Christin und übernahm 1981 dann doch vom Vater den Schweinehof in der Brokreihe.

1983 lief die Pacht des Kählerhofs aus. Heinz Johannes verkaufte seine 30 Kühe und zog mit seiner Frau Heinke in das Altenteil am Kamper Weg, wo seit neun Jahren Johannes Jacob alleine lebte.

Täglich fuhr Heinz Johannes zum Hof in der Brokreihe, um Tochter Antje und ihrem Mann bei ihrer Arbeit mit den Schweinen zu helfen.

Nachdem 1983 der Kählerhof endgültig verlassen war, wusste die Stadt Itzehoe lange nicht, was sie mit dem Hof anstellen sollte. Offensichtlich traf das ebenfalls auf den ehemaligen Schlüterhof zu, der bis heute Heimat eines Kleintierzüchtervereins ist. Der Kählerhof stand leer. Alle möglichen Pläne wurden in der Ratsversammlung besprochen, bis hin zu Tennisplätzen. Zwischenzeitlich nutzte ein Zirkus den Kählerhof als Winterquartier.

Ende der 70er Jahre merkten die Menschen langsam, dass die Betonfassaden der neuen Gebäude keine Geschichten zu erzählen hatten. Auch die Kirchen waren leer. Alles um sie herum war verstummt. Ein Zustand, den wir Menschen schlecht aushalten. Etwas muss zu uns sprechen. 

So wurden die 70er die Zeit der lautstarken Proteste. Wer sich von den Jüngeren nicht linksextremistischen Organisationen anschloss, entdeckte die Natur als neuen Resonanzkörper. Die Natur hatte den jungen Leuten wieder etwas zu sagen, und was sie angesichts der Atomkraftwerke, Luft- Wasser- und Bodenverschmutzungen, Flussbegradigungen, Autobahnen, Mülldeponien und Betonarchitektur zu sagen hatte, zerstörte sämtliche Utopien von einer besseren Zukunft. Jung und Alt gingen auf die Straßen, um die Natur zu schützen. Man besann sich alter, romantischer Lieder, saß um Lagerfeuer herum, ließ die Haare wachsen, trug Sandalen und rauchte alles, solange es das Elend für einen Moment vergessen ließ. Die Natur sprach zu ihnen und sorgte dafür, dass sich Menschen auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen zu ihrem Sprachrohr erklärten. Die Partei der Grünen wurde 1980 gegründet. 

Ebenso wurde die Reformpädagogik wiederentdeckt. Überall in der Republik, einschließlich Schleswig-Holstein, schossen Waldorf-Kindergärten und Waldorf-Schulen aus dem Boden.

1979 gründeten Eltern den „Verein zur Förderung einer Rudolf-Steiner-Schule in Itzehoe e.V.“. Als Mentoren aus der Waldorf-Bewegung ihnen sagten, dass Rudolf-Steiner-Schulen heilpädagogische Einrichtungen bezeichneten und einer Schulgründung idealer Weise eine Kindergartengründung vorausgehen sollte, benannte man den Verein um in „Verein zur Förderung der Waldorf-Pädagogik in Itzehoe e.V.“ Der erste große Meilenstein auf dem Weg zur Schule wurde 1982 mit der Gründung eines kleinen Kindergartens in einer Mietwohnung in der Sandkuhle 2 erreicht. Für eine Schule in der Stadtmitte fehlte lange ein geeigneter Bauplatz und wahrscheinlich auch das Geld.

Die Waldorf-Bewegung muss einigen Menschen im Itzehoer Stadtrat anachronistisch vorgekommen sein. Gerade wollte man sich noch mit aller Macht der Last der im letzten Jahrhundert oft unrühmlichen Geschichte entledigen und Itzehoe vor den Toren Hamburgs als fortschrittliche Stadt mit modernen Neubauten positionieren. Selbst die gelegentlich zu Hochwassern neigende, durch die Marschenlandschaft mäandernde Stör mit ihrer Störschleife, die für Jahrhunderte die Stadt mit ihrer Burg zu einer sicheren Insel machte, hatte man erfolgreich aus dem Stadtbild vertrieben. Ängstlich schaute man auf die Atomkraftgegner im nahen Brokdorf und ab 1979 auch auf die Waldorf-Bewegung in der eigenen Stadt, deren Wurzeln ausgerechnet in die Zeit zwischen den beiden großen Kriegen zurückreichen, von deren Geschichte man sich zu emanzipieren versuchte. … Das wollte man nicht.

Aber man hatte in Itzehoe auch keinen Plan, was aus dem 1978 gekauften und seit 1983 endgültig leerstehenden Kählerhof werden sollte.

Soviel sei vorweggenommen: Johannes Jacob Kähler, der Opa von Antje und Wiebke, war sehr, sehr glücklich über die Gründung der Waldorfschule auf seinem Hof. Der Stadt rang er den Straßennamen „Am Kählerhof“ ab. Fast täglich, so erinnert sich Wiebke, besuchte er die Waldorfschule. 1991 starb er mit stolzen 98 Jahren. 2016 starb Heinke Kähler, ein Jahr später Heinz Johannes.

Jürgen Beckmerhagen