Waldorfzeugnisse im Stadtarchiv
Seit Mittwoch letzter Woche (15.1.2020) lagern die Jahreszeugnisse der ersten fünf Schuljahre unserer Schule im Itzehoer Stadtarchiv (1987/88 bis 1991/92). Jahreszeugnisse wurden bei uns bis zum Jahr 2000 allesamt mit der Hand geschrieben. Beim Durchblättern der alten Dokumente begegnen einem nicht nur ehemalige Schüler*innen und Lehrer*innen – man liest Geschichten, die aus nackten Zahlen und Namen Menschen machen, Menschen aus Fleisch und Blut. Hierin unterscheiden sich bis heute Waldorf-Zeugnisse von klassischen Notenzeugnissen der meisten öffentlichen Schulen.
Allein beim Betrachten der oftmals fein gestochenen Handschriften spürt man die unbeschreibliche Wertschätzung der Pädagogen gegenüber ihren Schützlingen. Verschreiben durften sich die Kolleginnen und Kollegen damals nicht. Manche dieser Zeugnisse wurden auf diese Weise zu regelrechten Kunstwerken, während jedes einzelne ein Unikat ist, das im Original den Eltern und in höheren Jahrgängen den Schüler*innen überreicht wurde.
Wie bedeutungsvoll die Zeugnisse waren, spürte ich vor etwas mehr als einem Jahr, als der Ehemann einer einstigen Schülerin seiner Frau zu Weihnachten einen ganz besonderen Zeugnisspruch einer früheren Lehrerin schenken wollte. Wir konnten den Spruch finden und – so schrieb uns später das Ehepaar – zu einem unvergessliches Weihnachtsgeschenk beitragen.
In unserem Archiv lagerten Fotokopien sämtlicher Jahreszeugnisse. Die Landesbeauftragte für Datenschutz forderte uns Ende des Jahres auf, diese und andere Unterlagen unserer ehemaligen Schüler*innen unverzüglich zu vernichten. Um nicht alle Zeugnisse beseitigen zu müssen, verwies sie uns an das Stadtarchiv.
Die Leiterin des Archivs, Frau Kirsten Puymann, erkannte die Archiv-Würdigkeit der Zeugnisse angesichts der Fragestellung, wie Ersatzschulen im 20. Jahrhundert Zeugnisse schrieben. Gleichzeitig bedauerte sie die schlechte Qualität des genutzten Recycling-Fotokopier-Papiers und bezweifelte, dass die Zeugnisse in 100 bis 150 Jahren noch zu lesen seien. Ich habe jedoch den Eindruck, dass Frau Puymann und ihr Team alles daran setzen werden, dass diese Zeugnisse der Nachwelt so lange wie eben möglich erhalten bleiben. Vielleicht werden die Zeugnisse noch digitalisiert, bevor sich das Papier auflöst.
Bei aller Achtung der Persönlichkeitsrechte jedes einzelnen Menschen, frage ich mich ernsthaft, welche Anekdoten unsere Enkel, Großenkel und Ur-Großenkel eines Tages über uns erzählen werden. Dort wo Menschen zusammenkommen, erzählen sie sich Geschichten, die sich mehr oder minder um Fakten ranken. Aus ihnen werden Sagen und Mythen und die Historie von Familien und ganzen Völkern. Während Fakten nur das Knochengerüst von Geschichten sind, bilden Briefe, Zeugnisse, Protokolle, Notizen, Bilder, Filme, Tonaufnahmen deren Fleisch und berühren zutiefst unsere Emotionen.
Mit der Datenschutzgrundverordnung haben wir schließlich und endlich hingenommen, dass das, was einst als Gesellschaft von freien Menschen mit unveräußerlichen Menschenrechten gedacht war, heute nur noch ein Markt ist, auf dem lediglich zahlungskräftige Konsumenten mitreden dürfen. Ein Markt, auf dem mächtige Wirtschaftsunternehmen darüber entscheiden, welche Geschichten wir rund um die Uhr hören und einander erzählen, in dem die Reichen und Schönen, Stars und Sternchen, Ken und Barbie anstelle von Heiligen das Paradies vom unendlichen Wirtschaftswachstum und ewiger Jugend verkünden. Von diesen Unternehmen nehmen wir auch noch dankbar die Medien als Geschenk entgegen, mit denen wir unsere Gedanken, unsere Erkenntnisse, unsere Hoffnungen und Ängste festhalten und einander unsere Zuneigung und Sehnsüchte bekunden.
Aus Angst vor dem Missbrauch unserer Daten, die wir den Geistern in der Cloud anvertrauen, von denen jeder jederzeit den Delete-Button drücken kann, übergeben wir selbst unsere letzten gedruckten, persönlichen Geschichten unwiederbringlich dem Reißwolf.
Jürgen Beckmerhagen
Bild: Alsen-Lagerbücher im Itzehoer Stadtarchiv, J. Beckmerhagen, 2020