Nachfolge

„Werden Sie die Schule denn gar nicht vermissen?“ Diese Frage einer Kollegin verfolgt mich seit dem Morgen, an dem sie mir gestellt wurde. Meine spontane Antwort „Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist“ sollte nur verschleiern, wie schwer mir der Abschied von dieser Schulgemeinschaft wirklich fällt.

2000 bin ich für einen Neuanfang in den Norden gezogen, habe eine Familie gegründet und reiste als selbständiger Informatiker zwischen Orient und Okzident. Denver, Dallas, Montreal, Dublin, London, Paris, Frankfurt, Krakau, Moskau, Pune waren nur einige Stationen meines Arbeitslebens. Mich reizte besonders die Arbeit an gemeinsamen Projekten mit Menschen verschiedenster Kulturen.

Nach jeder Heimkehr begrüßte mich unsere Tochter mit großen Augen oder vergrub verängstigt ihr Gesicht in den Armen meiner Frau. Stellte ich mir Familie wirklich so vor?

Seit ich denken kann und wahrscheinlich schon davor sehne ich mich nach Gemeinschaft und nach Liebe, denn sie machen uns zu dem, wer oder was wir sind. Die Beziehung zu meinen Eltern macht mich zum Kind, die zu meiner Frau zum Ehemann, die zu meinen Kindern zum Vater. Seit 2013 machen mich meine Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen, zu Schülerinnen und Schülern, zu Eltern, Dienstleistern und Behörden zum Geschäftsführer unserer Schule. Erst unsere Verbindungen mit anderen Menschen machen uns zu dem, wer wir sind. Ohne Beziehungen würden wir nicht einmal existieren.

Ich wollte eine Beziehung zu meiner Tochter, obwohl mir dieses Bekenntnis nach dem Tod meiner ersten Tochter verdammt schwer fiel. Dazu musste ich all das loslassen, was mich davon abhielt. Außerdem wollte ich, dass meine Tochter in unserem näheren Umfeld von möglichst vielen anderen Menschen lernt. Dabei half uns die Waldorfschule in Itzehoe. Meine Familie wurde 2008 herzlich in die Schulgemeinschaft aufgenommen. Unsere Tochter entwickelte aufrichtige Beziehungen zu ihrer Klassenlehrerin und vielen anderen Lehrkräften. Elternabende, Bastelkreise, Feste, Vorstand. Die üblichen Stationen von Waldorf-Müttern und -Vätern. Höhen und Tiefen. Und bei Problemen streckte uns immer jemand eine helfende Hand entgegen. Mittlerweile studiert unsere Tochter und wenn wir mit ihr telefonieren, erleben wir sie meist inmitten einer Gruppe lebenslustiger und wissbegieriger Kommilitonen und Kommilitoninnen.

Die Vorstellung, dass im Herbst dieses Jahres ein Großteil dieser Beziehungen schwindet oder zumindest eine andere Qualität bekommt, macht mich schon nachdenklich. Ich bin mir sicher, dass es jedem Menschen kurz vor der Pensionierung so ergeht und dass viele ihren Kummer mit Zynismus verschleiern. Sollte dies bei mir gelegentlich der Fall gewesen sein, bitte ich um Nachsicht – es war reiner Selbstschutz.

Loslassen. Darum wird es auch in den verbleibenden Monaten gehen.

Antje Engel

Das Loslassen wird mir durch meine Nachfolgerin etwas leichter gemacht. Ich freue mich für die Schulgemeinschaft, dass Frau Antje Engel ab Mai die Geschäfte unserer Schule weiterführt. Frau Engel und ihre Familie kamen 2011 zu uns. Der älteste Sohn absolvierte im vergangenen Jahr sein Abitur und studiert inzwischen in Göttingen Jura. Weitere vier Kinder besuchen die Klassen 7, 10 und 12. Seit etwa sechs Jahren ist Frau Engel Elternvertreterin im Vorstand des Schulvereins. Daher ist sie mit den vielen Facetten unserer Schulgemeinschaft bestens vertraut. Ihr juristisches Fachwissen wird ihr hoffentlich auch in kniffeligen Situationen einen kühlen Kopf bewahren.

Ich freue mich auf die gemeinsame Zeit von Mai bis September und wünsche Frau Engel von Herzen viel Glück in dieser durch und durch erfüllenden Tätigkeit.

Jürgen Beckmerhagen

Bilder: privat