Vom Teil und vom Ganzen
Sollten Sie es noch nicht wissen, so sei es Ihnen hier gesagt: ich bin von Haus aus Informatiker mit einer soliden kaufmännischen Ausbildung und einem abgebrochenen Theologiestudium. Abgebrochen weil ich den Glauben verloren hatte – nicht etwa an die Theologie, sondern eher an die Menschen, die mir die Theologie seinerzeit näher bringen wollten.
Das nur vorweg. Es soll veranschaulichen, dass ich eine Liebe zu Zahlen und zum Detail habe, ohne aber das große Ganze aus den Augen zu verlieren.
Informatiker schreiben Algorithmen und nutzen dabei die Mathematik, um Vorhersagen zu machen, beispielsweise wie das Geschäftsergebnis am Ende des Jahres sein wird oder was Menschen sehr wahrscheinlich als nächstes machen werden. Ihr Tun basiert auf Theorien, die irgendwelche schlauen Leute irgendwann einmal entwickelt haben. Oft funktionieren die Theorien, vielfach aber auch nicht, wie sie spätestens dann erfahren, wenn Ihr Rechner „abstürzt“ oder Sie Ihr Geld in irgendwelchen wilden Spekulationen verloren haben.
Ein Naturwissenschaftler befasst sich immer nur mit einem kleinen Teil vom großen Ganzen. Der Physiker mit Elementarteilchen und Grundbausteinen unserer Welt, der Chemiker mit chemischen Reaktionen zwischen den Elementen und der Biologe mit dem was Leben ist. Jeder von ihnen stellt Fragen an sein jeweiliges Spezialgebiet, entwickelt mithilfe der Mathematik Theorien, die irgendwann in Experimenten bestätigt oder wieder verworfen werden.
Aber Experimente sind nicht die ganze Wahrheit, sie sind Beobachtungen in einem konstruierten, klar abgesteckten Raum mit fest vorgegebenen Randbedingungen. Würde ein Naturwissenschaftler behaupten, die ganze Wahrheit zu kennen, wüsste er, dass dies das Ende seiner beruflichen Karriere wäre. Denn – wenn alles schon gewusst wäre, gäbe es keine Notwendigkeit mehr für irgendeine Wissenschaft. Wissenschaft kennt keine Wahrheit, sie kennt nur Wissenslücken, die sie nach und nach zu schließen versucht. Was heute als Theorie gelehrt wird, kann morgen schon über den Haufen geworfen werden. Ende offen.
Leben ist weit mehr als das, was wir im Experiment beobachten können. Im wahren Leben beeinflussen sich viel zu viele Faktoren gegenseitig. Das Ganze ist also keineswegs mehr als die Summe seiner Teile, sondern mitunter etwas ganz anderes.
Ganz anders verhält es sich mit Weltanschauungen und Ideologien. Sie bieten uns geschlossene Systeme, die für sich in Anspruch nehmen, die Wahrheit zu kennen und nichts als die Wahrheit. Wahrheiten, die dem Ganzen einen Sinn verleihen, die uns erklären, weshalb alles entstanden ist, welches Ideal wir anstreben und was uns im Ziel erwartet: Am Anfang war das Wort, am Ende ist das Paradies. Und auf die Frage, was Gott vor der Erschaffung der Erde gemacht hat, antwortet der katholische Theologe, dass er die Hölle für die erschaffen hat, die solche Fragen stellen.
Es ist wohltuend, wenn man nach einem Ausflug in die Welt der Elementarteilchen und Zahlen Abstand gewinnt und den Blick wieder weitet. Denn, ich trinke keine Wasserstoffmoleküle – ich trinke frisches, reines Wasser. Im Urlaub begebe ich mich nicht in geologische Formationen, sondern wandere in den Alpen. Ich versende mit meiner Nachricht keine elektromagnetischen Wellen, sondern Botschaften voll Liebe und leider viel zu oft auch voller Hass. Ich liebe an meiner Familie, meinen Freunden und meinen Kolleg*innen nicht ihre Molekularstrukturen, sondern Menschen mit Herz und Verstand.
Ich wünsche mir, dass wir uns dessen nach den ersten wilden Monaten der Corona-Pandemie und zu Beginn der Sommerferien wieder bewusst werden. Es ist nicht das Virus, das uns gefährdet. Es sind nicht elektromagnetische Wellen, die uns krank machen. Es ist der Materialismus, die Gier nach Besitzstand, das blinde Vertrauen auf Wissenschaft, der Verlust an Spiritualität und der Faszination für das große Ganze.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen erfrischende Sommerferien. Schalten Sie ab. Lehnen Sie sich zurück. Genießen Sie das Leben. Es ist ein wunderbares Geschenk an uns. Und Sie sind ein wunderbares Geschenk an unsere Schulgemeinschaft!
Liebe Grüße
Jürgen Beckmerhagen