Wissenschaft und Spiritualität

Jetzt, da feststeht, dass ich am 1. Mai in der Verwaltung meinen Stuhl einer geschätzten Nachfolgerin freimachen werde, frage ich mich häufiger nach dem Sinn all dessen, was ich seit 2008 als Vater einer Waldorfschülerin und ab 2013 als Geschäftsführer unserer Schule erlebt habe.

Über die Bedeutung, was uns in den letzten Monaten widerfahren ist, haben wir in der Weihnachtszeit in meiner Familie besonders oft gesprochen. Heiligabend geriet ich über die Betrachtung der äußerst komplexen und gleichzeitig wunderschönen belebten Natur in Verzückung. Wir sprachen über den Zellaufbau, als es aus mir herausbrach: „Wer hat sich das nur alles ausgedacht? Und warum?“ „Es gibt keinen Sinn im Leben“, war die Antwort meiner Tochter. „Es ist Evolution, und wer Evolution denkt, muss auch Selektion denken.“ Als ich dann auf dem Weg zur traditionellen Familienfeier mitteilte, dass ein Familienmitglied inzwischen zu schwach sei, um mit uns zu feiern, flossen Tränen. „Wenn es keinen Sinn im Leben gibt, weshalb trauern wir dann um Menschen, die wir lieben?“

In der Naturwissenschaft fragen wir nicht nach dem Sinn der Dinge. Dort nehmen wir Objekte auseinander, um zu verstehen, wie sie funktionieren. Wir suchen nach Ursachen, um das, was ist, zu begreifen und um Annahmen über das zu machen, was kommt.

Die spirituelle Seite in jedem von uns verleiht den Dingen Bedeutung. Dort fügen wir die vielen kleinen Puzzle-Teilchen, die uns die Wissenschaften reichen, zu einem großen Bild zusammen. Dort wird aus H2O belebendes Wasser, aus einer 40 cm langen roten Blume ein Liebesbekenntnis, aus einem metallenen Ring ein Versprechen für ewige Treue.

Die analytischen und spirituellen Perspektiven fokussieren zwei völlig verschiedene Seiten ein und derselben Medaille. Wissenschaft und Spiritualität schließen einander nicht aus. Sie bedingen einander. Anders wäre Wissenschaft sinnlos.

Selbst unser Gehirn spiegelt beide Aspekte wider. Mit der linken Hirnhälfte analysieren wir die Phänomene, mit der rechten fügen wir sie zusammen und verleihen ihnen eine Bedeutung.

Die Waldorf-Pädagogik berücksichtigt dies ganz besonders. Zuerst betrachten wir ein Phänomen, bauen eine Beziehung zu ihm auf. Dann analysieren wir es – nehmen es auseinander. Und zuletzt fügen wir alles wieder zusammen, indem wir beispielsweise im Epochenheft die Einzelteile und unsere Erfahrungen beschreiben und ihnen durch Nachdenken Bedeutung verleihen.

„Wissen ohne Denken ist eitel. Denken ohne Wissen ist gefährlich“, soll Konfuzius gesagt haben. Wie gefährlich Denken ohne Wissen ist, erleben wir aktuell äußerst deutlich in der Pandemie. In bedrohlichen Momenten haben Menschen die Wahl zwischen zwei existentiellen Fragen: „Was hat diese Bedrohung mit uns zu tun; was ist unser Anteil?“ und „Wer hat uns das angetan.“

Ahnen Sie, worauf ich hinaus will? Die Frage „Wer hat uns das angetan?“ sucht nach Schuldigen. Die Frage „Was haben wir dazu beigetragen?“ sucht nach Lösungen.

Bei der Suche nach Schuldigen schauen Menschen immer zuerst auf Andere, auf Schwächere, auf Andersartige, auf Minderheiten. Zuerst sind es die Juden, die Hochfinanz, die Globalisten, die Eliten, die Regierenden, danach Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft, anderer Kulturen. Antisemitismus und Rassismus haben dieselben faulen Wurzeln: Dummheit.

So schmerzlich die Erfahrungen der letzten Monate auch waren und so sehr ich um jedes Kind trauere, das über einen inszenierten Konflikt über die Masken-Frage die Schule verließ – heute bin ich überglücklich darüber, dass sich in unserer Schulgemeinschaft die Reihen derer, die nach Schuldigen suchen, binnen kürzester Zeit lichteten. Diese Erfahrung stimmt mich froh und zuversichtlich, was die Zukunft unserer Schule anbelangt.

Meine Nachfolgerin werde ich Ihnen bei nächster Gelegenheit vorstellen. Von Mai bis September stehe ich ihr noch mit Rat und Tat zur Seite. Wir sehen uns.

Jürgen Beckmerhagen.

Foto: Lekshey Tsomo