Zeichnen lernen heißt Sehen lernen

Sollten Sie auch schon einmal ein Pferd malen, und was Sie zu Papier brachten, ähnelte allem, nur keinem Pferd? Gehören Sie auch zu den Menschen, denen nicht auffällt, wenn Ihre Partnerin oder Ihr Partner beim Friseur war oder wenn der Kollege eine neue Brille trägt?

Zugegeben, mir geht es ständig so. Bei mir kommt hinzu, dass ich mir Namen schlecht merken kann, und spätestens da wird die Angelegenheit oft peinlich für mich. Gut, ich könnte es jetzt mit dem „Kleinen Prinzen“ halten und sagen, man sieht nur mit dem Herzen gut, und da spielen Namen, Brillen, Haarschnitte oder Kleidung keine Rolle. Wahrscheinlich hält die Evolution gute Gründe bereit, weshalb es ausgerechnet für mich von Vorteil war und ist, dass mein Hirn all diese scheinbar unwesentlichen Details filtert, bevor es sie im Langzeitgedächtnis speichert.

Dennoch lässt mir mein Unvermögen keine Ruhe, besonders dann nicht, wenn ich sehe, mit welcher Qualität viele unserer Schülerinnen und Schüler zeichnen und wie sie die kleinste Veränderung an einem Kollegen oder einer Kollegin bemerken. Ich kann mir diesen Unterschied nur damit erklären, dass unsere Kinder von der ersten Klasse an die Phänomene, denen sie im Unterricht begegnen, selber bildlich darstellen anstatt einfach nur Fotos auszuschneiden und in ihre Epochenhefte zu kleben.

Liegt es am Zeichnen, dass unsere Kinder besser sehen? Ich wollte es wissen und nahm kürzlich Bleistift und Papier zur Hand und richtete den Blick auf einen Alltagsgegenstand, der mich nahezu auf Schritt und Tritt begleitet (ein Schuh), und wunderte mich beim Zeichnen über viele Details, die mir bis dahin nicht bewusst waren.

Im gleichen Moment kam mir ein Satz in den Sinn, den ich kürzlich in der Niederschrift des schleswig-holsteinischen Bildungsausschusses vom 17. Januar 2019 las: „Es sei beeindruckend zu sehen, wie das Interesse von Kindern an Naturphänomenen steige, wenn sie anhand von selbst erstellten Bildern beispielsweise das Wachstum einer Feuerbohne dokumentierten und in einem selbst erstellten Video ihren Eltern präsentieren könnten.“ Dieser Satz wurde im Zusammenhang mit der Digitalisierung unserer Schulen gesprochen.

Nach meinem bescheidenen Selbstversuch behaupte ich, dass sich die zitierten Kinder sehr wahrscheinlich unbewusst für die Technik der hochauflösenden Kamerachips und für die intuitiv zu bedienende Video-Editing-Software faszinierten. Die Feuerbohne interessierte sie wahrscheinlich nicht die Bohne. Es hätte auch jeder andere Gegenstand sein können.

Und genau hier kann Waldorf-Pädagogik die Grenze zwischen der analogen und digitalen Welt ziehen. Filme und Fotos ersetzen keine Bücher und erst recht keine eigenen Erfahrungen. Sich der Bedeutung der selbst gefertigten Zeichnung, des selbst gespielten Theaterstücks, des selbst geschriebenen Baumtagebuchs, des selbst gebauten Hauses und des selbst bewirtschafteten Ackers bewusst zu werden und seine eigenen vielfältigen und gleichzeitig eingeschränkten Sinne zu erkennen und zu schulen, ist angesichts der fortschreitenden Digitalisierung wichtiger denn je.

Denn Medien sind nicht die Realität – auch dann nicht, wenn sie in 4K, 5K und 8K über den Bildschirm flimmern. Medien entkoppeln die Realität von Raum und Zeit, machen sie leicht manipulierbar und immer und überall verfügbar. Aber sie können niemals die eigene Anschauung, das eigene Bild ersetzen.

Durch meine Erfahrung beflügelt, will ich mir in den nächsten Tagen den Zierlauch in unserem Garten vornehmen.

Falls Sie selber einmal zeichnen möchten und eine Anleitung benötigen, hilft Ihnen vielleicht dieser Blogbeitrag der Berliner Illustratorin Caroletta: Zeichnen lernen: Fünf Tipps und Tricks für Anfänger

Jürgen Beckmerhagen